Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefes Land

Tiefes Land

Titel: Tiefes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Steenbergen
Vom Netzwerk:
und zwölf Jahre alt. Ich weiß noch, dass es ein sehr schwüler Tag war und die Kinder träge in den Schaukeln hingen, während ich versuchte, Scott zu einem Ausflug auf das Klettergerüst zu animieren. Er wollte jedoch lieber mit seinem roten Flugzeug spielen, das er ständig bei sich trug und mit dem er sich stundenlang beschäftigen konnte. Es war ein kleiner Plastik-Doppeldecker, auf dessen Bug ein weißer Vogel gedruckt war. Schließlich steckte Scott ihn aber doch ein und erklomm widerwillig das Gerüst. Obwohl ich das Mädchen nicht kannte, winkte es mir zum Abschied und rief mir aus der Ferne irgendetwas zu, bevor es im Gebäude verschwand. Es war jedoch zu leise, um es verstehen zu können. Scott schien es gar nicht wahrgenommen zu haben. Ich konnte es mir nicht erklären, doch ich spürte das starke Verlangen, dem fremden Mädchen hinterherzulaufen und es zu fragen, was es mir hatte sagen wollen.
    In diesem Moment drehte sich Scott plötzlich zu mir um, blickte mich durchdringend an und fragte: »Kennen Sie den Darkside Park?«
    In den ersten Sekunden war ich zu perplex, um zu reagieren, doch dann verneinte ich zögernd.
    Daraufhin wandte der Junge seinen Blick ab und murmelte: »Toby ist jetzt dort. Der bleiche Mann hat ihn mitgenommen.«
    Verständlicherweise versuchte ich im Folgenden intensiv, eine Erklärung für diese rätselhafte Aussage zu erhalten. Doch Scott verfiel wieder in tiefes Schweigen, sodass ich abends unverrichteter Dinge und zutiefst verwirrt meinen Heimweg antrat. In den folgenden Tagen und Wochen versuchte ich auf Grundlage von Scotts Äußerung immer wieder, einen Gesprächszugang in den hermetischen Kokon des Jungen zu finden, doch vergebens. Zwar gelang es mit der Zeit, seine posttraumatischen Symptome mehr und mehr einzudämmen, doch über den seltsamen Park oder den unheimlichen Fremden sprach Scott nie wieder.
    Selbstverständlich stand ich die ganze Zeit über sowohl mit seinen als auch mit Tobys Eltern und der Polizei in Verbindung, aber es ergab sich keine verwertbare Spur. Niemand konnte mit Scotts Worten etwas anfangen oder eine Verbindung zu früheren Geschehnissen herstellen. Dr. Barrett interpretierte den mysteriösen bleichen Mann letztlich als imaginäre Projektionsfigur. Eine emotional greifbare Phantasiegestalt, mit der Scott das tragische Verschwinden seines Freundes auf eine für ihn begreifbare Ebene rücken wollte. Dieses Phänomen zur Kompensierung von Angst- und Schuldgefühlen ist in vergleichbaren Fällen durchaus häufiger zu beobachten. Auch ich stimmte dieser Diagnose zu, jedoch nicht ganz ohne verbleibende Zweifel. Bis zuletzt war ich mir nämlich sicher, damals in Scotts Augen etwas gesehen zu haben, das gänzlich klar und unverzerrt war: eine felsenfeste und unantastbare Gewissheit.
    Viele Monate später, Scott war schon lange nach Hause entlassen worden, erhielt ich eine erschütternde Nachricht. Während eines Spaziergangs hatte sich der Junge urplötzlich von seiner Mutter losgerissen, war über das Geländer der Dellview Bridge geklettert und in die Tiefe gesprungen. Er wurde sofort von der starken Strömung des Cale River mitgerissen und konnte zwei Kilometer flussabwärts nur noch tot geborgen werden. Das Ganze geschah auf den Tag genau ein Jahr nach dem Verschwinden von Toby Jenkins.
    Scotts Tod traf mich tief. Er war mein erster Patient hier in Porterville gewesen, und im Laufe der langen Zeit war er mir stärker ans Herz gewachsen, als ich es mir eingestanden hatte. Therapeutisch gesehen war da natürlich stets eine professionelle Distanz gewesen, doch irgendetwas an dem Jungen hatte mich berührt und nicht mehr losgelassen. Nach seinem Tod verstärkte sich diese Empfindung noch. Kaum ein Tag verstrich, ohne dass ich mir die quälende Frage stellte, ob ich irgendetwas hätte tun können, um sein Schicksal abzuwenden. Mit der Zeit jedoch begann die schmerzliche Erinnerung, mehr und mehr zu verblassen. Neue Patienten kamen und gingen.
    Zum Beispiel Matt Broyers, ein Musiker aus Detroit, der aus beruflichen Gründen vor kurzem mit seiner Familie nach Porterville gezogen war. Ein überaus dynamischer, lebensfroher Mann, der jedoch unter dem belastenden Manko einer stark ausgeprägten Klaustrophobie litt. Ausgelöst durch ein traumatisches Kindheitserlebnis, hatte sich seine Angst vor engen Räumen in den Folgejahren immer stärker ausgeprägt. Schließlich war der Leidensdruck so groß geworden, dass er den Entschluss fasste, professionelle Hilfe

Weitere Kostenlose Bücher