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Tiefes Land

Tiefes Land

Titel: Tiefes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Steenbergen
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in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich gelang es im Rahmen einer mehrmonatigen Therapie, Broyers Panikattacken nahezu vollständig einzudämmen. Sowohl im Beruf als auch privat begann für ihn nun ein völlig neues Leben. Sein überglückliches Gesicht am Ende unserer letzten Sitzung werde ich nie vergessen. Dieses Erfolgserlebnis beflügelte mich und ließ den Vorfall mit Scott weiter in den Hintergrund rücken. Die Jahre vergingen, und der segensreiche Reflex des Vergessens setzte ein.
    Wahrscheinlich hätte ich nie wieder an den seltsamen Park oder den bleichen Mann gedacht, wenn ich nicht auf Stewart Falkner getroffen wäre. Falkner war ein ehemaliger Bibliothekar Ende 70, der schon seit über zwanzig Jahren im ›St. Christopher’s‹ wohnte – einem Seniorenwohnheim in unmittelbarer Nachbarschaft zur Klinik. Anfang des Jahres 1981 wurden beide Institutionen zusammengeschlossen. Von da an zählten auch regelmäßige Routine-Kontrollen im ›St. Christopher’s‹ zu meinem Aufgabenbereich. Vornehmlich Untersuchungen der dort gepflegten Demenzpatienten. Stewart Falkner war in jeder Beziehung außergewöhnlich, nicht nur aufgrund seines markanten Äußeren, das mich an eine zerzauste Variante von Abraham Lincoln erinnerte. Sein Krankheitsbild ließ sich nur schwer in ein gängiges Profil einordnen. Die Diagnose lautete auf eine seltene Variante der Zyklothymie. Heute würde man von bipolarer Störung sprechen – eine affektive Psychose, die sich durch extreme Stimmungsschwankungen auszeichnet. Das Spektrum reicht von manisch-aktiver Euphorie bis hin zu tiefer Depression. Das Besondere an Falkners Fall war, dass seine depressiven Phasen von schweren katatonischen Schüben begleitet waren. Er verfiel in eine regelrechte Schockstarre, die sich mitunter über viele Tage hinzog, sodass er künstlich ernährt werden musste. War er aus dieser Starre wieder erwacht, stürzte er sich übergangslos in hektische Betriebsamkeit, ohne sich an die zurückliegende Phase erinnern zu können. Derlei Symptome wichen deutlich von den bekannten Formen manischdepressiver Störungen ab. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Therapie. In vergleichbaren Fällen finden sich meist konkrete Ursachen, die die Entstehung der Erkrankung beeinflussen. Genetische Veranlagung kann als Auslöser ebenso in Frage kommen wie starke Schock- und Verlusterfahrungen, körperliche Misshandlungen oder Konflikte in der Familie und am Arbeitsplatz. Nichts davon traf jedoch auf Stewart Falkner zu. Er führte eine grundsolide Existenz ohne erkennbare Schattenseiten, als er im Herbst 1959 urplötzlich zusammenbrach.
    Es war wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Er hatte sich gerade auf dem Rückweg von einem Abendspaziergang befunden, als er ohne sichtbaren Anlass die Besinnung verlor und in Starre verfiel. Zwei Obdachlose hatten den Vorfall beobachtet und brachten ihn zum nächsten Krankenhaus. Erst drei Tage später kam Falkner im ›Columbia Hospital‹ wieder zu sich, ohne sich an den Vorfall oder seine Ursache erinnern zu können. Seitdem hatte sich sein Geisteszustand rapide verschlechtert, sodass er schließlich mit Einwilligung der Angehörigen ins ›St. Christopher’s‹ eingewiesen wurde. Seine folgenden Jahre glichen einem ständigen Wechsel zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. Grauzonen gab es bei Mr. Falkner nicht. Entweder er war bester Laune und widmete sich mit Feuereifer diversen Aktivitäten wie dem Ausschneiden und Sortieren von Katalog-Coupons. Oder aber er lag mit versteinerten Gesichtszügen im Bett und starrte ausdruckslos die Zimmerdecke an. Stunden-, manchmal sogar tagelang. Eine vernünftige Konversation war in beiden Zuständen ausgeschlossen. Er reagierte auf keinerlei stimulierende Impulse, weder verbal noch medikamentös. Falkner hatte sich in seinen eigenen Mikrokosmos zurückgezogen, in dem es nur noch sinnlosen Aktionismus oder vollkommene Leere gab. Dennoch musste man den alten Kauz gern haben, wenn er beim Öffnen der Tür von seinem völlig überladenen Basteltisch aufblickte und jeden Besucher mit einem überschwänglichen »Charly! Wie schön, dass du es einrichten konntest!« begrüßte. Er nannte jeden im ›St. Christopher’s‹ Charly, egal ob männlich oder weiblich.
    Nach dem Willkommensgruß versenkte er sich wieder vollständig in seine jeweilige Tätigkeit, doch sobald man sich verabschiedete, rief er strahlend und unter heftigem Winken: »Wie schön, dass du da warst, Charly!«
    So ging es

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