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Tiefes Land

Tiefes Land

Titel: Tiefes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Steenbergen
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wer war er, und was hatte sich damals ereignet? Welches Grauen konnte Mr. Falkner zugestoßen sein, dass er daraufhin den Verstand verloren hatte? Und wie stand Scott Harrison mit diesen Geschehnissen in Verbindung?
    Angesichts der vielen ungeklärten Fragen entschloss ich mich, Sheriff Parker vom ›Porterville Police Department‹ hinzuzuziehen. Schon seit Jahren arbeitete ich regelmäßig in beratender Funktion mit ihm zusammen. Dazu zählte beispielsweise die psychologische Betreuung von Straftats- und Unfallopfern, aber auch die Auswertung von Risikodiagnosen. Im Laufe der Zeit war Hank Parker ein väterlicher Freund für mich geworden, dessen Rat ich sehr schätzte und dem ich mich stets anvertrauen konnte. Er war ein Polizeichef wie aus dem Bilderbuch: Seine hoch aufragende Statur und der respekteinflößende Leibesumfang verliehen ihm eine natürliche Autorität, die nicht arrogant oder aufgesetzt wirkte. Das scharf geschnittene Gesicht mit der kleinen L-förmigen Narbe unter dem rechten Auge unterstrich den Eindruck souveräner Entschlossenheit. Nicht zu vergessen sein sorgsam gepflegter silbergrauer Schnauzbart, der stets wie frisch onduliert aussah. Während der schweren Wochen nach Scott Harrisons Tod war Hank mir eine große Stütze gewesen. Nicht zuletzt seiner unermüdlichen Fürsprache war es zu verdanken, dass ich mich damals nicht in zerstörerischen Selbstvorwürfen verloren hatte.
    »Der Schmerz wird nicht dadurch kleiner, dass du ihn mit Schuld aufwiegst«, hatte er zu mir gesagt.
    Und mit der Zeit war mir bewusst geworden, dass er recht hatte. Natürlich stand Sheriff Parker mir auch jetzt mit Rat und Tat zur Seite. Gemeinsam untersuchten wir sorgsam die damaligen Ermittlungsakten nach jeder auch noch so kleinen Auffälligkeit. Wir fanden jedoch nichts, was uns hätte weiterhelfen können.
    Da es schon spät geworden war, verabredeten wir für das Ende der Woche ein weiteres Treffen, und ich machte mich auf den Heimweg. Zu meiner Wohnung im Westviertel waren es nur etwa zwei Kilometer; deshalb war ich mit dem Rad gekommen. Es war bereits dunkel, und leider hatte ich vergessen, dass mein Dynamo seit einem Sturz nicht mehr richtig einrastete. Das flackernde Vorderlicht irritierte mehr, als dass es nützte. Kurz darauf setzte zu allem Überfluss noch starker Regen ein, sodass mein Licht schließlich ganz erlosch. Die Straßenlaternen boten zum Glück ausreichend Helligkeit, um weiterfahren zu können. Genervt beschleunigte ich das Tempo, um so schnell wie möglich ins Trockene zu kommen. Ich nahm eine Abkürzung über einen ausgebauten Wanderweg, der am Laym’s Garden, einem kleinen Waldstück mit mehreren Seen, entlang führte. Urplötzlich tauchte jemand im Halbdunkel vor mir auf. Ich musste scharf bremsen und den Lenker zur Seite reißen, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Mein Fahrrad schrammte an einem hohen Holzgatter entlang und kam schließlich zum Stehen. Gerade wollte ich zum Fluchen ansetzen, da erkannte ich die gedrungene, leicht gebückte Gestalt. Es war Misses. Harding, die alte Verkäuferin aus dem Drugstore in der Innenstadt. Überrascht blickte ich sie durch den strömenden Regen an. Was machte diese gebrechliche Frau zu so später Stunde und bei diesem Wetter hier draußen? Ich begrüßte sie unsicher und fragte, ob alles mit ihr in Ordnung sei. Misses Harding antwortete nicht, sondern schaute mich nur unverwandt und mit einem melancholischen Ausdruck in den Augen an.
    Dann schüttelte sie müde den Kopf und sagte: »Lass es sein.«
    Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging weiter. Verwirrt blickte ich ihr nach, bis sie hinter den dichten Regenschleiern verschwunden war.

    In dieser Nacht hatte ich einen rätselhaften Traum, aus dem ich schweißgebadet erwachte: Ich befand mich zusammen mit einer Gruppe unbekannter Leute auf einer Hausbesichtigung. Es war ein spartanisch eingerichtetes und irgendwie bedrohlich wirkendes Gebäude, das abgelegen auf einer Waldlichtung stand. Mir fiel auf, dass gar kein Makler anwesend war. Unsere Gruppe stand inmitten eines fast kahlen Raumes einfach nur stumm zusammen, ohne jede Regung. Es herrschte eine seltsam sentimentale Stimmung, und wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich nur tiefes Grün. Auf einem schwarzen Sofa an der rechten Wand lag eine junge, wunderschöne Frau, die apathisch ins Nichts starrte. Ihre makellosen Gesichtszüge wirkten unnahbar und todtraurig. Unvermittelt änderte sich die Stimmung. Es wurde unruhig, und

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