Tiefes Land
Wochen und Monate, bis es eines Tages im August 1982 zu einem äußerst bizarren Vorfall kam. Ich hatte gerade meine übliche Untersuchung bei Mr. Falkner abgeschlossen, die dieser wie immer anstandslos über sich hatte ergehen lassen. Als ich bereits wieder halb auf den Flur hinausgetreten war, hielt ich verwundert inne und blickte zurück in den Raum. Wo blieb der Abschiedsgruß? Mr. Falkner saß wie stets an seinem geliebten Basteltisch und hatte sich tief über einen aufgeschlagenen Werbeprospekt gebeugt. Sein Gesichtsausdruck spiegelte jedoch nicht wie sonst hitzige Freude und Enthusiasmus wider, sondern war von blankem Grauen erfüllt.
Mit weit aufgerissenen Augen tippte er wieder und wieder auf ein bestimmtes Bild und hauchte: »Da … daaa…«
Irritiert trat ich auf ihn zu und betrachtete die Prospektseite. Es war ein schmaler Versandhauskatalog für Möbel und sonstigen Einrichtungsbedarf. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Abgebildet war ein stilvoll, wenn auch etwas altmodisch eingerichtetes Zimmer in typischer Neuengland-Eleganz, inklusive langgestreckter Regalwand und gediegener Sessel-Garnitur, auf der sich eine breit lächelnde Blondine aalte. Überragt wurde die Szenerie von einer imposanten Standuhr, deren Zeiger exakt auf 1.00 Uhr standen.
Diese Uhr war es offenkundig, die Falkners Entsetzen hervorrief. Immer noch stammelte er wie in Trance: »Da … da …«
Ich berührte ihn sanft an der Schulter und fragte: »Was sehen Sie, Mr. Falkner?«
Der knochige Zeigefinger des alten Mannes stieß noch heftiger auf das bedruckte Papier hinab. »Das böse Zimmer … ich war dort … allein … mit ihm!«
Verwirrt beugte ich mich tiefer zu ihm herab. »Wen meinen Sie? Wer war dort?«
Falkner begann, am ganzen Leib zu zittern und flüsterte panisch: »Die … die Uhr … er kam aus der Uhr … schreckliche Augen …!«
Das Zucken wurde immer stärker und Ströme von Schweiß rannen seine Stirn herab. Eilig zog ich eine Spritze mit einem Sedativum auf, während ich weitersprach.
Ich wollte, ich musste es wissen: »Wer, Mr. Falkner? Wer kam in dieses Zimmer?«
Plötzlich packte mich der alte Mann am Kragen meines Arztkittels und zog mich mit unglaublicher Kraft direkt zu seinem angstverzerrten Gesicht herab. Es waren nur zwei Sätze, die er heiser hervorstieß, doch sie ließen mir das Blut in den Adern gefrieren: »Der bleiche Mann! Lassen Sie nicht zu, dass er mich holt, Dr. Morgan!«
Dann brach die Spannung ab, und seine Hände lösten sich von mir. Langsam wandte sich Falkner wieder der Tischplatte zu, blätterte mit glasigem Blick die Prospektseite um und begann mit hörbarer Begeisterung, einen längst verfallenen Einkaufsgutschein auszuschneiden. Der dramatische Moment der Wachheit hatte nur wenige Sekunden gedauert. Nun war Mr. Falkners Geist wieder in seine eigene ferne Welt zurückgekehrt. Dieses Mal endgültig. Kein Wort, keine Bitte oder Aufforderung vermochte, ihn wieder zurückzuholen. Natürlich war ich wegen dieses Vorfalls zutiefst verunsichert.
Wie war das möglich? Dieser alte Mann lebte seit einem Vierteljahrhundert im ›St. Christopher’s‹, hochgradig umnachtet und ohne jeden Bezug zur Außenwelt. Wie konnte er da eine Figur kennen, die der Phantasie eines ihm völlig unbekannten Jungen entsprungen war? Zwischen den beiden gab es doch nicht den geringsten Zusammenhang. Und dennoch war ich hundertprozentig überzeugt davon, dass auch Scott an dem Junitag vor über zehn Jahren von einem »bleichen Mann« gesprochen hatte. Und von irgendeinem seltsamen Park.
Ich informierte Dr. Barrett von dem erstaunlichen Zwischenfall, und er teilte meine Meinung, dass wir der Sache nachgehen sollten. Wir setzten uns mit Falkners Familie in Verbindung, kontaktierten alte Freunde und Weggefährten, doch alle Bemühungen blieben ergebnislos. Ich rief sogar beim Servicebüro des Versandhauses an. Dort erhielt ich jedoch wie erwartet die Information, dass es sich bei dem betreffenden Foto um eine arrangierte Studioaufnahme handelte. Das abgebildete Zimmer existierte nur für den Augenblick der Aufnahme. Falls es sich bei Mr. Falkners Aussetzer also tatsächlich um einen Flashback gehandelt hatte, musste die Standuhr der auslösende Schlüsselreiz gewesen sein.
»Er kam aus der Uhr«, hatte Falkner gesagt.
Ich zermarterte mir den Kopf darüber, was er damit gemeint haben könnte. Noch wichtiger jedoch war die zweite Frage: Wenn der bleiche Mann wirklich existierte –
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