Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
ohne eine vernünftige Entscheidung getroffen zu haben. Am liebsten wäre er weggelaufen. Stattdessen stürzte er sich aufs Pragmatische.
»Hast du einen Keller?«
»Ja. Die Leiche ist aber ganz woanders, falls du darauf hinauswillst.«
»Versteck den Wein, dass man den Brand auf den Kisten nicht sieht. Für alle Fälle. Die gibt es ja, wie man sieht.«
»Nimm du sie doch. Ich mache mir nichts daraus. Bei dir sind sie besser aufgehoben.« Tiny nahm die Bierflasche auf und setzte sie an den Hals.
Jung kam sich vor wie in einem schlechten Film. Die Ganoven teilten die Beute unter sich auf, je nach Geschmack und Vorliebe. Die Vorstellung amüsierte ihn. In den meisten Filmen wurden die Ganoven gefasst. Hier sah es bis jetzt so aus, dass sie zu den wenigen Ausnahmen gehören könnten. Jung registrierte mit befremdlicher Freude, wie sich ein sportlicher Ehrgeiz in ihm regte.
»Gute Idee. Wir bringen sie zu mir. Fällt dir sonst noch etwas ein?«
Tiny überlegte. Er nuckelte noch immer an seiner Flasche und stellte sie jetzt zurück auf den Steintisch. Er sah Jung aufmerksam an.
»Bist du gesund, Tomi?«
»Was soll das? Hast du Zweifel an meiner Geisteskraft?«
»Das passt zu dir«, seufzte Tiny. »Aber ich frage nicht nach deinem Geist, sondern nach deinem Herzen, deinen Lungen, deinem Kreislauf, deinen Zähnen, deinen Knochen und deinen Augen.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Antworte!«, sagte Tiny ungeduldig.
»Wenn es denn zur Lösung deines Problems beiträgt, bitte. Ich habe mit meiner Gesundheit keine Probleme: keinen Herzinfarkt, keine TBC, keinen Hirnschlag, keinen Krebs, jedenfalls nicht, dass ich wüsste, keine Schwindsucht, keine Blechhüfte, kein Glasauge und kein Kukident im Badezimmer. Zufrieden?«
»Okay. Ich werde dir zeigen, wo sie ist, ohne dass du tätig werden musst. Hinterher bist du schlauer, aber nicht wissender. Auf jeden Fall wirst du ruhiger sein. Du unterschätzt mich.«
»Du redest ziemliche Scheiße, Tiny. Ist dir das Bier zu Kopf gestiegen?«
»Nun komm mal runter von deinem hohen Ross, Herr Oberbeamter. Hast du morgen schon etwas vor?«
»Nein. Was willst du?« Jung wurde ungeduldig.
»Wart’s ab. Morgen um 6 Uhr starten wir beide zu einem Ausflug.« Tiny lachte hinterhältig. »Iss vorher nicht so viel.« Er machte Anstalten, sich zu erheben. »Ich muss mich anziehen.«
»Gut, ich mache mit. Dir zuliebe. Aber noch etwas, Tiny«, hielt Jung ihn auf. »Ich fände es angebracht, wenn du für ein paar Wochen Urlaub machen würdest, weit weg von hier. Sicherheitshalber, verstehst du?«
»Okay. Nichts dagegen. Aber erst nach dem Ausflug.«
»In Ordnung. Ich werde pünktlich sein. Até amanhã.« Jung erhob sich.
»Até amanhã. Du weißt ja, wie du nach Hause findest.« Tiny kam auf die Füße und schlurfte ins Haus.
Jung ging nachdenklich durch den Garten, den Hang hinunter bis zum Klippenrand. Er starrte auf das Meer und dachte über alles nach. Zumindest würde er jetzt den Rest seines Urlaubs zusammen mit Svenja verbringen können. Ob er sich erholen würde, bezweifelte er allerdings. Das Problem Tiny hatte sich erledigt. Dafür hatte er sich ein anderes, schwerer wiegendes aufgeladen.
Der Flug
Abends saß Jung auf dem Sofa und verfolgte aufmerksam die Nachrichten im Fernsehen. Er hatte sich Brote geschmiert und vor ihm, auf dem Couchtisch, stand eine kühle Flasche Wasser. Der Spaziergang auf den Klippen und den Strand entlang hatte ihn angenehm erschöpft. Seine Beine schmerzten etwas und seine Wadenmuskeln zuckten ab und zu. Er musste seinem Körper Magnesium zuführen, fiel ihm ein.
Die Aufregung über die Entführung der kleinen Engländerin hatte sich noch weiter gesteigert. Das britische Außenministerium und die EU-Kommission waren eingeschaltet worden! Jung fragte sich schon lange nicht mehr nach dem Sinn dieser Aktivitäten. Er bestaunte nur den Einsatz und dessen Erfolg, mit dem von dem wirklichen Geschehen abgelenkt wurde. Denn das schien ihm ziemlich sicher, selbst wenn er noch nicht genau wusste, wer letztendlich den Tod des Mädchens zu verantworten hatte und wie es dazu gekommen war. Er versuchte zu ergründen, welche Motive diese hochkarätigen Institutionen bewegt haben mochten, sich in den Fall einzuschalten. Er schüttelte den Kopf, und ihn erfasste kaltes Entsetzen über die blinde Unaufhaltsamkeit, mit der sich die Gemüter weiter erhitzten, und die Erfolglosigkeit für den Fall, dass jemand vielleicht die gute Absicht gehabt hatte,
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