Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
vergiss es.« Jung winkte ab. »Unwichtig. A nossa.« Er hob erneut sein Glas.
Jung nahm einen guten Schluck. Sogleich besserte sich seine Stimmung und sein Zorn verflüchtigte sich. Tiny trank und setzte die Flasche hart auf den Steintisch.
»Wie hast du eigentlich herausbekommen, was ich von Beruf bin?«, fragte Jung beiläufig, nachdem die Spannung zwischen ihnen gewichen war und einer ernüchterten Atmosphäre Platz gemacht hatte.
»Unser gemeinsamer Freund, der Wetterfrosch, hat es mir gesagt. Ich rief ihn an. Leider zu spät.«
»Ah ja. Das sagtest du schon.«
Jung nahm noch einen Schluck. Der Genuss machte ihn ruhiger und lenkte seine Sinne auf ihre unmittelbare Umgebung. Er sah auf die Hügel im Westen. Die Sicht war von bestechender Klarheit. Er konnte auf dem höchsten Gipfel einen Antennenmast ausmachen, dessen Gitterkonstruktion rot-weiß angestrichen war.
Jung dachte nach. Es fiel ihm schwer einzusehen, dass Tiny mit der Idee, einfach nichts zu tun und alles zu lassen, wie es war, den Vogel abgeschossen haben sollte. Es war klar, dass die Aufregung und die Medienhype vorübergehen mussten, bevor Nüchternheit einkehren und der Boden bereitet werden konnte, auf dem Argumente und Fakten zählten – und nicht die Erfüllung und Befriedigung von Vorurteilen, Vorstellungen, Erwartungen und Eitelkeiten beteiligter Autoritäten und Mächte. Erst wenn das beteiligte Personal ausgewechselt und die lautstarken Experten und Würdenträger sich zurückgezogen haben würden, weil nichts mehr für sie aus dem Fall herauszuholen war, konnte eine neue Seite aufgeschlagen werden, auf der frische Fakten eine Chance hatten, eingetragen zu werden. Der Vorteil am Status quo war, dass neben Tiny und ihm nur noch die Eltern die Macht hatten, ihn zu ändern. Und die Eltern hatten sich selbst die Hände gebunden. Sie konnten nicht initiativ werden, wenn sie ihre gewählte Position nicht ins Wanken bringen wollten. Und das war nicht zu erwarten, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Wer wusste, wie die Lage in einem oder zwei Jahren aussehen würde? Wenn sie am Tod ihrer Tochter schuld waren oder auch nur Mitschuld trugen – woran nicht zu zweifeln war –, dann würde das an ihnen nagen. Früher oder später würde ihre Position zerbröseln, vielleicht zerbrachen sie sogar daran. Aber danach würde eine andere Zeit und eine andere Lage angebrochen sein. Tiny und seine Geschichte mussten dann eine andere Deutung erfahren als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Jung war sich in seinem Urteil sicher. Aber Tiny musste daran gehindert werden, weiter Dummheiten zu machen.
»Sag mir nicht, wo, aber sag mir, ob du die Leiche unauffindbar untergebracht hast, Tiny«, beschwor ihn Jung eindringlich.
»Absolut unauffindbar. Unauffindbarer geht’s gar nicht«, antwortete Tiny selbstsicher.
Jung sah ihn zweifelnd an. Tiny machte ein unschuldiges Gesicht und blieb ganz ruhig. Nach einer kurzen Atempause sagte Jung: »Hol dir noch ein Bier. Es wird noch etwas dauern.«
Tiny stand auf. Jung trank von dem köstlichen Wein und fragte sich, ob er nüchtern genug war, weitreichende und schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Er beruhigte sich, weil er sich kannte. Wenn er Wein trank, der gut war, bewirkte das bei ihm Ruhe und Klarheit. Jedenfalls, wenn es bei ein, zwei Gläsern blieb. Trank er mehr, wurde er müde. Er war in seinem ganzen Leben niemals sturzbetrunken gewesen, abgesehen von einer Weinprobe, die er als junger Mann mitgemacht hatte, und einem Blackout als Teenager, als ihn seine Eltern übers Wochenende in der Obhut seiner älteren Schwester gelassen hatten. Sein Schwesterherz hatte ihn schon am ersten Abend mit so viel Bier und Eierlikör abgefüllt, dass er anstatt im Keller, wo er für Nachschub sorgen sollte, bewegungsunfähig im Bett landete. Er war für zwei Tage krank. Der Kellerschlüssel blieb für immer verschwunden. Seine Schwester verbrachte den Rest der Zeit allein mit ihrem Lover. Sie hatte ihn später geheiratet. Jung hatte ihr gnädig verziehen.
»Was hast du jetzt vor?«, meldete sich Tiny bei Jung zurück.
»Wir machen gar nichts, buchstäblich gar nichts. Das gilt besonders für dich, Tiny. Hast du das verstanden?«
»Du musst mir das nicht einbläuen wie ein bekloppter Oberlehrer. Ich mache seit Tagen nichts anderes.«
Jung ignorierte Tinys Beleidigung. Entsetzt wurde ihm endgültig klar, dass er seinen Gefühlen erlegen war und sich mit Tiny gemeingemacht hatte, ohne zuvor seinen Verstand befragt und
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