Tiere essen
Fleisch mit besserem Gewissen zu essen.
Der Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, der aus dem von den Nazis besetzten Polen fliehen konnte, setzte die Ungleichbehandlung der Spezies mit den »extremsten rassistischen Theorien« gleich. Für Singer war das Eintreten für Tierrechte die reinste Form des Kampfes für soziale Gerechtigkeit, weil Tiere die wehrlosesten unter den Geknechteten dieser Erde seien. Für ihn war die Misshandlung von Tieren der Inbegriff des moralisch falschen Rechts des Stärkeren. Wir opfern ihre grundsätzlichsten und wichtigsten Bedürfnisse der Befriedigung flüchtigster menschlicher Interessen, und das nur, weil wir es können. Natürlich unterscheidet sich das menschliche Tier von allen anderen Tieren. Menschen sind einzigartig, nur eben nicht so, dass deshalb tierisches Leiden bedeutungslos würde. Denken Sie mal nach: Essen Sie Huhn, weil Sie die wissenschaftliche Literatur über Hühner kennen und auf dieser Grundlage beschlossen haben, dass ihr Leiden zu vernachlässigen sei, oder weil Huhn Ihnen schmeckt?
Üblicherweise bedeuten ethisch-moralische Entscheidungen eine Wahl zwischen unvermeidlichen und ernsthaften Interessenkon flikten. In diesem Fall sehen die widerstreitenden Interessen so aus: auf der einen Seite das Verlangen eines Menschen nach Gaumen freuden, auf der anderen Seite das Bedürfnis eines Tieres, nicht die Kehle aufgeschlitzt zu bekommen. Nicolette erzählt Ihnen, bei ihr bekämen die Tiere »ein gutes Leben und einen leichten Tod«. Aber das Leben, das sie ihren Tieren bietet, ist bei Weitem nicht so an genehm wie das, was die meisten von uns unseren Hunden und Katzen gönnen. (Sicherlich leben und sterben ihre Tiere besser als die von Smithfield, aber gut?) Und selbst wenn, was wäre das für ein Menschenleben, das mit zwölf Jahren zu Ende ist? So alt werden nämlich nach Menschenalter die ältesten Tiere auf Bills und Ni colettes Ranch, wenn sie nicht zur Zucht bestimmt sind.
Nicolette und ich sind einer Meinung, dass unsere Ernährungs entscheidungen einen großen Einfluss auf andere Menschen haben. Wenn man selbst Vegetarier wird, hat man eine vegetarische Ein heit in seinem Lebensumfeld geschaffen; überzeugt oder beeinflusst man eine weitere Person vom Vegetarismus, ist diese Einheit bereits doppelt so groß. Und man kann natürlich noch viel mehr Menschen erreichen. Welche Ernährungsweise man auch wählt, die öffentliche Seite des Essens ist entscheidend.
Der Entschluss, überhaupt Fleisch zu essen (selbst wenn es aus weniger tierquälerischer Produktion stammt), wird andere ermuntern, Fleisch aus Massentierhaltung zu essen, auch wenn sie es sonst vielleicht nicht getan hätten. Was sollen wir davon halten, dass führende Köpfe der Kampagne für »anständiges Fleisch« wie meine Freunde Michael Pollan und Eric Schlosser und sogar die Farmer von Niman Ranch regelmäßig Geld ins System der Massentierhaltung stecken, indem sie die Produkte konsumieren? Für mich heißt das, dass die Vorstellung vom »moralisch einwandfreien Fleischkonsum« unhaltbar ist, wenn selbst die prominentesten Verfechter dieser Idee sich nicht immer daran halten. Ich habe zahllose Menschen getroffen, die von Erics und Michaels Argumenten bewegt und überzeugt waren, doch keiner von ihnen isst jetzt nur noch Fleisch von Niman Ranch oder entsprechenden Produzenten. Sie sind entweder Vegetarier geworden oder essen immer noch gelegentlich Tiere aus Massentierhaltung.
Es klingt vor allem deshalb so »nett« und »tolerant«, dass man auch »anständig« Fleisch essen kann, weil die meisten Menschen es gern hören, wenn man ihnen sagt, dass alles, was sie tun und haben wollen, moralisch einwandfrei ist. Eine Vegetarierin wie Nicolette macht sich natürlich sehr beliebt, wenn sie Fleischessern die Möglichkeit bietet, der eigentlichen moralischen Herausforde rung des Tierkonsums auszuweichen. Doch die ehemaligen »Ex tremisten« bei Themen wie Frauenrechte, Bürgerrechte, Kinder-rechte sind heute die gesellschaftlich Konservativen. (Wer würde bei einer Frage wie der Sklaverei für halbherzige Lösungen ein treten?) Wieso ist es beim Thema Tiere essen plötzlich so proble matisch, auf das hinzuweisen, was doch wissenschaftlich offen kundig und unabweisbar ist: dass Tiere uns mehr ähneln, als dass sie sich von uns unterscheiden? Sie sind unsere »Vettern«, wie Ri chard Dawkins es ausdrückt. Selbst der unwiderlegbare Satz »Sie essen eine Leiche« wird als Übertreibung
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