Tiffany Duo Band 0124
Adrenalinpegel hoch. Hatte sie es sich nur eingebildet? Es konnte ein Hirsch gewesen sein oder ein Bär …
“In Jeans?”, sagte sie laut.
Sie drehte sich ganz in ihrem Sitz herum und spähte durch das Rückfenster.
Wem versuchte sie etwas vorzumachen? Es war ein Mann gewesen. Ein hoch gewachsener Mann. Und obwohl sie nur einen flüchtigen Blick auf ihn erhascht hatte, glaubte sie Blut gesehen zu haben. Und er war nicht einfach die Straße entlanggegangen.
Eher gestolpert. Getaumelt, als ob er betrunken wäre. Oder verletzt.
Jetzt war nichts mehr von ihm zu sehen.
Alles in ihr schrie danach, von hier zu verschwinden. Sie war eine Frau allein, um Himmels willen. Selbst sie schaute sich gelegentlich die Spätnachrichten an. Niemand würde ihr einen Vorwurf machen, wenn sie weiterfuhr. Es war das Vernünftigste.
Und doch zögerte sie, wobei sie im Stillen Daniel verfluchte, der sie überredet hatte, heute noch nach Hause zu fahren. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde sie jetzt sicher auf ihrer alten Laborcouch mit den kaputten Sprungfedern liegen und genetisch veränderte Schäfchen zählen.
Vielleicht kommt ja noch ein anderes Auto vorbei.
Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Viertel vor zwölf. Nach zehn lag diese Straße wie ausgestorben da. Es würde Morgen werden, bevor hier wieder jemand fuhr. Und was war bis dahin? Dann war der Fremde womöglich schon tot.
Sie verabscheute die Paranoia, die zu einem Teil ihres Lebens geworden war. Noch mehr allerdings verabscheute sie sich selbst für ihren Impuls, vor einem Menschen davonzulaufen, der vielleicht ihre Hilfe brauchte.
Automatisch langte sie nach ihrem Handy, dann warf sie es wieder auf den Sitz.
Verdammte Technik.
Noch immer zitternd und mit einem Widerstreben, das an Panik grenzte, schaltete sie in den Rückwärtsgang und wendete. Während sie die Straße im Schneckentempo zurückfuhr, hallten ihr die Worte von Gil Castillano, dem Partner ihres verstorbenen Mannes und ihres besten Freundes, in den Ohren, der sie überredet hatte, sich ein Handy anzuschaffen.
“Ich mache mir Sorgen um dich, Tess”
, hatte er in seinem brüderlichen Ton gesagt. “
Du lebst ganz allein. Tu mir den Gefallen und triff ein paar Vorsichtsmaßnahmen, ja?”
“Vorsichtsmaßnahmen”, brummte sie. “Dafür ist es jetzt ein bisschen spät.” Wenn sie auch nur einen Funken Verstand im Kopf hätte, würde sie weiterfahren und vom nächsten Telefon aus die Polizei anrufen.
In einiger Entfernung bewegte sich irgendetwas in den Lichtkegel ihrer Scheinwerfer. Es war wenig mehr als ein dunkler Haufen, der sich jetzt vom Boden aufrappelte und die Straße hinuntertaumelte.
Sie grub die Zähne in ihre Unterlippe, während sie im Schritttempo weiterfuhr. Nach hundert Metern etwa war sie auf gleicher Höhe mit dem Mann. Sein einst weißes Hemd stand offen und wehte im Nachtwind wie eine weiße Fahne. Er schien sie ebenso wenig zu bemerken wie die Scheinwerfer, die die holprige Straße erhellten. Der dunkle Fleck auf seinem Hemd sah in der Tat aus wie Blut.
“Oje, oje”, murmelte sie, an ihrer Unterlippe nagend. Vielleicht war er ja sternhagelvoll hingefallen.
Sie steckte ihren Kopf aus dem Fenster. “Hallo!” Keine Reaktion. “Hallo! Mister …”
Als ob sie einen Schalter umgelegt hätte, knickten seine Knie ein, und er fiel wie ein nasser Sack zu Boden.
Tess stieß ein erschrockenes Keuchen aus, bremste und riss den Schlüssel aus der Zündung. Dann schloss sie die Hand fest um die kleine Spraydose, die an ihrem Schlüsselanhänger baumelte. Sie schnappte sich aus dem Handschuhfach eine Taschenlampe, stieg aus und raste zu ihm.
Er rührte sich nicht. Als sie ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, musste sie sich zwingen, nicht auf und davon zu rennen. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen.
Großer Gott.
Sein Zustand war übel. Über dem Auge hatte er eine stark blutende Kopfwunde. Höchstwahrscheinlich hatte er eine Gehirnerschütterung. Die linke Seite seines — wie ihr schien — kühn geschnittenen Gesichts und seine Brust waren blutüberströmt.
Er war kreidebleich und dort, wo kein Blut war, glitzerte Schweiß. Sie kauerte sich neben ihn und tastete nach dem Puls an seinem Hals, wobei sie erleichtert aufatmete, als sie ihn, wenn auch nur ganz schwach, unter ihren Fingerspitzen pochen fühlte. Seine Haut war feucht und kalt. Schocksymptome. Was bei der Menge Blut, die er bereits verloren hatte, nicht überraschend war. Sie ließ
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