Tiffany Duo Band 0133
sah abgespannt aus und fühlte sich, als wäre sie hundert Jahre alt.
“Ich bin uralt”, hatte sie ihm in der Nacht, in der sie sich kennengelernt hatten, gesagt, und es stimmte.
Sie war müde. Sie hatte es satt, Angst zu haben und sich ausgelaugt zu fühlen. Aber das war noch lange keine Entschuldigung dafür, dass sie sich über den Untermieter ihrer Mutter etwas zusammenfantasierte. Ein neunundzwanzigjähriger arbeitsloser Zimmermann mit einem Ring im Ohr konnte ihr nicht helfen, egal wie breit seine Schultern auch waren.
Sie spülte die Zahnpasta aus dem Waschbecken, dann ging sie über den Flur, um ihren Kindern einen Gutenachtkuss zu geben.
Chris hüpfte auf dem Bett herum, als sie ins Zimmer kam. Debbie lächelte. “Zähne geputzt?”
“Ja!”
Sie warf einen Blick in das schmale leere Bett auf der anderen Seite des Zimmers. “Wo ist Lindsey?”
“Ich …, äh …”
Schon wieder Geheimnisse. Sie waren überall um die zerbrechlichen Teile ihres Leben gewickelt, wie das Papier, das sie beim Auszug benutzt hatte, um ihre Gläser und das Geschirr einzupacken.
“Chris”, warnte sie.
Er wand sich unter ihrem Blick. “Sie ist zu Sean gegangen.”
Oh nein. “Zu Mr MacNeill? Warum?”
“Na ja …, weil du doch gesagt hast, dass ich ihn nicht mehr stören soll. Aber ich hab meinen Comic ausgelesen, und ich wollte ihn fragen, ob er mir noch eins ausleiht.”
Und dann hatte er also Fräulein Kratzbürste entweder überredet oder bestochen, dass sie für ihn zu ihm ging. Debbie seufzte. “Oh, Chris.”
“Du hast nicht gesagt, dass sie es nicht darf.”
“Nein, aber ich dachte, du hättest verstanden …, ach, egal.” Warum sollten ihre Kinder Sean eher widerstehen können als sie?
Sie strich Chris die Ponyfransen aus den Augen und küsste ihn auf die Stirn. “Träum schön, mein Schatz. Gute Nacht.”
“Gute Nacht.” Er schlang seine Arme fest um ihren Hals.
Bei dem schlichten Körperkontakt schossen ihr die Tränen in die Augen. Oh, Gott, in ihren Gefühlen musste ja ein ganz schönes Chaos herrschen, wenn sie schon bei der kleinsten Zärtlichkeit anfing zu heulen. Kein Wunder, dass sie sich in Sean MacNeill verguckt hatte. Sie hungerte offenbar nach zwischenmenschlichem Kontakt.
Wie demütigend.
“Schlaf schön”, sagte sie mühsam, dann machte sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter.
Myra summte in der Küche leise ein Lied mit, das gerade im Radio gespielt wurde. Debbie öffnete die Fliegengittertür – die dank Seans segensvollem Wirken nicht mehr klemmte – und trat über die neue Schwelle auf die Veranda. Sie glaubte ihre Mutter fast zufrieden aufseufzen zu hören: Es ist so nett, einen Mann im Haus zu haben.
Und das war es auch, verdammt. Es war nett, dass die Abflüsse nicht mehr verstopft waren, dass der Wasserhahn nicht mehr tropfte und das Gebläse im Auto ihrer Mutter wieder funktionierte. Es war nett, morgens Seans übermütigen dunklen Augen zu begegnen und sich hinter einer Kaffeetasse zu verstecken, wenn sie spürte, wie sie rot wurde. Es war nett, sich, wenn auch nur für Sekunden, einmal nicht so zu fühlen, als träte sie ihren letzten Gang an.
Sie blieb einen Moment stehen, damit sich ihre Augen an die mondlose Nacht gewöhnten. Die schwülfeuchte Luft, die über den dunklen Bäumen aufstieg, hüllte die Sterne in einen dünnen weißen Schleier ein, und der Chor der Zikaden schwoll an und ab wie das Meer bei Flut. Die große Tür zur Garage stand offen, spülte Licht und Farbgeruch heraus und ließ die warme Nachtluft hinein.
Und Mücken wahrscheinlich auch, dachte Debbie, sich absichtsvoll dem Ziehen der lauen Sommernacht widersetzend.
Aber den Mann, der auf dem mit einer Plane bedeckten Boden kniete, schienen die Mücken nicht zu stören. Sean bearbeitete unter dem gleißenden Licht einer Arbeitslampe einen hohen, schmalen Hängeschrank mit gleichmäßigen Pinselstrichen. Sein Gesicht, das von ein paar schwarzen Strähnen eingerahmt wurde, die sich aus seinem kurzen Pferdeschwanz gelöst hatten, wirkte angespannt vor Konzentration.
Plötzlich schnürte ihr eine Sehnsucht den Hals zu, eine Sehnsucht, die weniger dem Mann galt als dem Mädchen, das sich vielleicht in ihn hätte verlieben können, dem Mädchen, das vielleicht diesem hinreißenden Lächeln, diesen besorgten Augen und der Kraft in seinen Handgelenken und seiner Stimme geglaubt haben könnte.
Dummkopf, schalt sich Debbie. Dieses Mädchen war sie schon lange nicht mehr. Sie begann die
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