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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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hattet eine ganz besondere Freundschaft. Schade, dass er so alt war und so viele gesundheitliche Probleme hatte. Aber wie ich immer schon gesagt habe: Du kannst ihn ja im Himmel heiraten.«
    ***
    »Er ist gestorben wie ein Mann«, sagte mein Vater einen Monat später in der Küche. »Zumindest das kann man ihm zugutehalten. Es war kein feiger Tod. Er hat sich nicht aus dem Leben geschlichen. Wie er den Mut aufgebracht hat, weiß ich nicht. Man muss verrückt sein, um so was zu tun.« Und leise fügte er hinzu, die Lippen um seine Flasche Heineken gewölbt: »Ich hätte das nicht gekonnt.« Ich wunderte mich, weil Poppa Selbstmord sonst immer so kritisch gegenüberstand. Dann merkte ich, dass seine Stimme sich geringfügig verändert hatte, er diese Worte also in dem seltenen Versuch sprach, mich zu trösten, ohne selbst daran zu glauben. Oder sah er in Peters Sprung wirklich etwas Ehrenwertes? Während Poppa redete, schnitt er eine Papaya auf; ich sah zu, wie die schwarzen Kerne herausquollen. Schmatzend aß er ein wenig von der Frucht. Dann setzte er sie mir auf einem angesprungenen blauen Teller vor, und ich begann zu essen, wenn auch nur, um meine Hände und meinen Mund zur Abwechslung mal gleichzeitig zu beschäftigen.
    »Der Wagen, bist du dir sicher, dass du den haben willst?« Poppa lehnte sich gegen den Küchenschrank, rauchte verbissen. Er wedelte den Qualm von seiner Kleidung fort, zog an der Zigarette, fächelte, zog wieder. »Du solltest ihn verkaufen und mein Geld rausholen. Auf dem Auto liegt sowieso ein Fluch. Ich würde so ein Auto um nichts in der Welt fahren wollen. Ich würde eher zehn Meilen zu Fuß gehen, als einen Fuß in das schwarze Auto zu setzen.«
    Ich sagte ihm, dass ich den Wagen übernehmen wollte. Wieder dachte ich daran, dass Inès ihn nicht geerbt hatte, weil sie nicht fahren konnte. Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen.
    »Weißt du, was ich an dem Abend gemacht habe, als der Anruf kam?« Poppa drückte die Zigarette aus. »Ich bin in die Kneipe gegangen. Hab getrunken. Und dabei dachte ich die ganze Zeit nach. Ich dachte: Vielleicht hat dieser Mann Tabletten genommen, ist in den Wald gegangen, und da ist es kalt. Oder er ist irgendwo runtergesprungen, hat sich ein Bein gebrochen und liegt da nun mit Schmerzen. Niemand ist da, der ihm helfen kann. Ich wünschte bei Gott, dass er tot war. Ich betete: Lass diesen Mann tot sein. Ich möchte Menschen nicht leiden sehen. Das ist nicht meine Art. Als ich hörte, dass er tot war, war ich jedenfalls erleichtert.«
    Er zündete sich die nächste Zigarette an. »Weißt du, ich hatte immer das Gefühl, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte, dass er nicht normal war. Ich konnte nicht richtig den Finger darauflegen. Aber ich fand schon, dass er ein rücksichtsvoller Mensch war, hilfsbereit. Er hat mir sogar mal Geld geliehen. Damals lief es schlecht im Schmuckgeschäft, ich hatte ein paar Monate keine Arbeit. An einem Samstag wollte er dich abholen, da bat ich ihn, mir einen Zwanziger zu leihen. So eine Demütigung, jemanden zu fragen, der selbst nichts hat. Klar, ich habe ihm ein Auto gekauft, ich hab ihm also zehn Mal so viel gegeben.« Poppa dachte nach. »Aber er hat immer bei deiner Mutter geholfen. Trotzdem, irgendwas an ihm war komisch, als lebte er in einer anderen Welt. Er konnte seine Vergangenheit nicht loslassen; er blickte nicht nach vorn. Im Leben kann alles Mögliche passieren, ein Familienmitglied kann sterben, man kann Geld verlieren oder die Arbeit, alles ist möglich: Trotzdem muss man weitermachen. Man kann sich nicht umbringen. Das ist nicht der Sinn des Lebens. Man muss es durchstehen, egal was es ist.«
    »Selbst wenn du alt bist und du dir von jemand anderem die Windeln wechseln lassen musst?«
    »Was auch immer. Das Leben ist zu wertvoll. Meine älteste Schwester Esmeralda hat meinem Vater am Ende seines Lebens die Windeln gewechselt.«
    »Aber war das nicht demütigend? Für beide?«
    »Das war ihre Pflicht! Ich habe dir auch die Windeln gewechselt, ja? Ich kann nur hoffen, dass du dich um mich kümmerst, wenn ich älter werde. Darum geht es im Leben: Man kümmert sich ums eigene Blut. Ich habe an ihn gedacht, dass er mir geholfen hat, mir sogar Geld geliehen hat, obwohl er arm war, dass er deine Mutter oft ins Krankenhaus fuhr; ich war dankbar dafür, aber er war nicht von meinem Blut. Und er war nicht von deinem Blut. Sein Tod ist traurig, aber alles ist traurig. Wir machen weiter.« Poppa legte die Hand auf meine

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