Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Arbeit gegangen, wieder nach Hause gekommen, habe was gegessen, Reis mit schwarzen Bohnen, ganz für mich allein, habe mir wieder die Zähne geputzt … und nie habe ich auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Müll verschwendet!« Doch ich wusste, dass das nicht stimmte. Offenbar dachte Poppa ja gerade jetzt daran, und er hatte noch immer nichts weggeworfen.
***
In den ersten beiden Monaten nach Peters Tod waren meine Tage ein Marathon aus Schlafen, Aufwachen, ein bisschen Essen und wieder Einschlafen. Tagsüber schlief ich im Bett meiner Mutter im Küchenanbau. Nur nachts verzichtete ich darauf und ging nach oben, weil sie in dem großen Bett im ersten Stock niemals ein Auge zugetan hätte. Nachts störte mich das Elternschlafzimmer nicht. Nachts war alles egal.
Wenn ich tagsüber in mein Tagebuch schrieb, fragte ich mich, ob ich es Peter nicht doch hätte ausreden können, wenn ich mich ein wenig mehr angestrengt hätte. Ich erinnerte mich daran, wie er gedroht hatte, von einem Felsen zu springen, und ich ihn aufgefordert hatte, sich dann doch eine Stelle zu suchen, wo keine Bäume wären. Und warum hatte ich mir trotz meiner Depressionen zum ersten Mal Strähnchen ins Haar machen lassen? Zudem hatte ich vor, mir in der nächsten Woche ein Tattoo stechen zu lassen; wenn Peter ein Tattoo an mir gesehen hätte, wäre er in Tränen ausgebrochen. Hatte ich mich all die Jahre selbst verleugnet? Wie viele Vorlieben, die ich als meine betrachtet hatte, stammten tatsächlich von Peter? Vor sechs Monaten wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir Farbe ins Haar zu machen, noch hätte ich je mit einer Tätowierung geliebäugelt. Ich hatte Angst. Wo genau hörte Peter auf und fing ich an? Diese verrückte Frage führte dazu, dass ich noch einmal seine Abschiedsbriefe las und seine Notizblöcke voller Liebesbriefe an mich durchging, um zu verstehen, wie sehr sein Leben ein Tribut an mich gewesen war. Alles, was ich von ihm geerbt hatte, war Beweis dafür, dass ich die Person war, die er am meisten liebte. Doch eine Zeile in einem seiner Abschiedsbriefe bereitete mir Kopfzerbrechen: »Margaux, ich hinterlasse dir mein Auto, weil Inès es eh nicht fahren kann.« War das also ein Trostpreis? Ein Wagen für tausend Dollar, den er mit dem Geld von mir und meinem Vater gekauft hatte? Ich redete mir ein, er hätte nicht nachgedacht, als er das schrieb, sein Kopf sei verwirrt gewesen.
Eines Tages zog meine Mutter das Rollo herunter, kam zu mir ans Bett und setzte sich. »Margaux, ich hoffe nur, dass du mit den Prüfungen zurechtkommst. Ich habe auf dem Kalender nachgesehen. Sie sind bald dran, weißt du. Du willst doch nicht, dass du durchfällst.«
»Ich weiß, es ist egoistisch«, sagte ich, »aber manchmal wünschte ich mir, er hätte bis nach meinen Prüfungen warten können. Bis nach meinem Abschluss. Keine Ahnung. Vielleicht konnte er nicht anders. Vielleicht gab es Gründe, warum er nicht hatte warten können.«
»Er hat am Ende sehr gelitten. Und nichts geschieht ohne Grund. Gottes Wege sind unergründlich. Glaub mir, niemandem war deine Ausbildung wichtiger als Peter. Er war immer dein größter Fürsprecher. Wenn dein Vater dich runtermachte, baute er dich wieder auf.
»Ich wünschte, er wäre hier.«
Mommy strich mir übers Haar. »Ach, Gott kümmert sich um alles. Bei mir hat er das auch gemacht. Gott hat mir liebevolle Menschen geschickt. Zum Beispiel, als du klein warst, da wolltest du einfach nichts essen. Wir gingen zu Rosa, und Rosa hat dich gefüttert: Der Löffel kam wie ein Flugzeug zu deinem Mund geflogen, weißt du noch?«
»Ja, sie hatte einen kleinen Sohn. Der war süß.«
»Es war Gottes Wille, dass ich damals den Hausschlüssel verlor. Ich glaube fest daran, dass er es so einrichtete, damit wir Peter wiedersehen konnten. Ich weiß, dass es dir jetzt wehtut, aber du hattest so viele fröhliche Jahre, und er ist mit dir an so viele Orte gefahren und hat dir so viele Dinge beigebracht.«
»Was glaubst du, wo Peter jetzt ist?«
»Im Himmel. Er schaut auf dich herunter, er ist dein ganz persönlicher Schutzengel. Manchmal glaube ich immer noch, dass er tatsächlich die Wiedergeburt von Jesus gewesen sein könnte. Er war so weise und rein. Wenn er doch nur gute psychiatrische Hilfe bekommen hätte! Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn er nur die richtigen Medikamente bekommen hätte.«
»Es wäre trotzdem passiert. Glaub mir.«
»Na, du kennst ihn besser als alle anderen. Ihr beiden
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