Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
gelähmt sein könnte. Wir spielen Super Mario Brothers 3 ; er bittet mich, ihm beizubringen, wie Mario springt. Jetzt lese ich ihm aus Frankenstein von Mary Shelley vor. Da sind wir in der Kirche: Er spricht den 23. Psalm. Ich bin das einzige Mädchen in meiner achten Klasse, das verheiratet ist. Da bin ich hinten auf dem Motorrad, mein Haar löst sich aus dem Pferdeschwanz. Dort liegen wir auf einer Wiese im Nationalpark Bear Mountain und warten, dass die Sterne ihre Laserstrahlen anknipsen. Schließlich klettere ich den steilen Hang am Anfang der schönen Landstraße empor, sammle die roten Himbeeren, die oben wachsen. Mutig stehe ich oben, die Himbeeren in der Hand, um Peter zu zeigen, dass ich den Hang erklommen habe. Im Licht, im klaren Licht, zerdrücke ich die Beeren auf spitzen Steinen und mache mich mit leeren Händen auf den Rückweg, lecke meine Hände trocken.
Jahre nach Peters Tod sehe ich mir all die Fotos an, die er von mir machte. Bilder in Alben, Bilder in der Holzkiste, die ich ihm im Werkunterricht bastelte. Da bin ich mit sieben Jahren beim Radschlagen, ein rosa-weißes Kleid fällt mir über den Kopf, Wildlederschuhe ragen in die Luft wie die Zacken eines Sterns. Auf meiner Unterhose, deutlich sichtbar, prangt mein kleines Pony. Ende der achten Klasse, ich sitze mit einer von Peter geschenkten roten Rose auf einem Terrassenstuhl im Garten. Sein Pony ist ordentlich, sein Gesicht sieht gut aus. Ich bin fünfzehn, in Flanellhemd und Hosenträger, beuge mich über das hölzerne Puppenhaus, eine kleine Filzmaus in der Hand.
Ich betrachte ein Bild meiner großen Rivalin Jill. Ohne Peters Wissen hatte ich Jill im Sommer seines letzten Jahres als erwachsene Frau gesehen; wahrscheinlich war sie auf Urlaub vom College. Ich war mir sicher, dass sie es war. Sie hatte den Schönheitsfleck unterm Auge, an den ich mich noch erinnerte. Das helle Haar hatte sie zu einem tief angesetzten Pferdeschwanz zusammengebunden und trug Sandalen mit Keilabsatz. Sie war groß, dünn, rotwangig. Als ich an jenem Tag an ihr vorüberging, war ich überzeugt, dass sie Peter vergessen haben musste. Wenn er ihr irgendeine Freude beschert hatte, so war sie so flüchtig gewesen wie ein Softeis; ihre Mutter war immer dabei gewesen, und so war ihre mit Peter verbrachte Zeit so durchschnittlich wie ihre Caprihose und ihr Fußkettchen gewesen. Keine Geisterstunden, keine Heimlichkeiten.
Da bin ich mit zwanzig, lutsche einen Lolli mit Traubengeschmack, die Sonne auf dem entlegenen Pfad ist so grell, dass mein Gesicht aussieht, als würde es von Kerzenlicht beschienen. Es gibt weitere Bilder: ich lachend in der Sonne, ich mit den Fingern im verwunschenen Teich, in dem ich einmal eine Waldbachschildkröte freiließ.
Unzählige Bilder von mir mit der verrosteten Gießkanne, barfuß neben der grünen Pforte vor Peters Haus, auf dem Motorrad, mit der Nase in einer Max-Graf-Rose. Auf der Hängematte, mein Kopf an Peters Brust; er dreht mein Haar um seinen Finger, mein Gesichtsausdruck ist träge. Auf einem anderen ruht mein Kopf auf seinem Arm, sein Gesicht schaut mich im Profil an, meine Augen sind überschattet von Gefühl, seine Augen klar und frisch wie der frühe Morgen. Auf einer Aufnahme, die ich noch nie gesehen habe, sitzen Karen und ich in der Badewanne, und ich wasche ihr das Haar mit Kindershampoo. Zwischen uns wippt Badespielzeug von Pu der Bär . Der Fotograf bleibt natürlich unsichtbar. Er ist irgendwo hinter unserer Blickebene, irgendwo in den kahlen Hügeln, gefangen im Oval eines Handspiegels. Kurz blitzt er im Kopf einer sterbenden Großmutter auf, im dunklen See, im lachenden Wald. Er erfindet Worte und ihre Begleitmusik, er ist ein Alleskönner, und er ist schön. Er liebt uns so sehr.
Nachwort
Heute ist der 6. Oktober 2010. Ich sehe mir jetzt ganz andere Fotos an, die ich gerade im Fotoladen abgeholt habe. Auf einem der Bilder, die mein Mann von meiner Tochter und mir gemacht hat, sitzen wir auf der steinernen Einfassung eines großen blauen Sees. Ich trage eine Hippie-Sonnenbrille mit viereckigen Gläsern und violetten psychedelischen Spiralen darauf, meine Tochter hat einen pinkfarbenen Hut von Hello Kitty auf und glitzernde Plastikreifen am Handgelenk. Wie immer weigert sich meine Tochter, für die Kamera zu lächeln. Ich verstehe das als Zeichen ihrer Unabhängigkeit.
Am vergangenen Abend fiel mir an der Treppe auf, dass der knapp zwanzig Zentimeter großen Kurt-Cobain-Figur die E-Gitarre fehlt. Kurt ziert
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