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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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überschriebst. Du hattest eine Karte für mich gezeichnet, damit ich deinen schwarzen Mazda finden konnte und nicht wegen Autodiebstahls angezeigt werden würde. In den Umschlag hattest du einen Zweitschlüssel gelegt, der Originalschlüssel befand sich im Zündschloss des Mazdas . Ich war zweiundzwanzig, und du warst sechsundsechzig.

Erster Teil

1
    »Kann ich mit dir spielen?«
    1985. Es war Frühling, und wenn der Wind heftig wehte, fielen die Blüten von den Kirschbäumen. Prachtscharten und Astern leuchteten bunt, und ich roch den süßen, schwindelerregenden Duft des Geißblatts, vom Wind herangetragen mit einem Schimmern frisch geraubter rosaweißer Kirschblüten und den fedrigen weißen Samen des Löwenzahns. Es war die Jahreszeit der Wespen, jener trägen Insekten, die ständig Mülleimer und Sprudelflaschen umschwirren. Mit drei Jahren war ich von einer Wespe in die Nasenspitze gestochen worden, worauf meine Nase auf ihre doppelte Größe anschwoll; seitdem hasste meine Mutter Wespen voller Inbrunst.
    »Haut ab!«, schrie sie und fuchtelte mit den Händen herum, damit die Wespen verschwanden, die unserem Picknick mit den Freunden meiner Eltern, Maria und Pedro, und ihrem Sohn Jeff auf der Wiese im Liberty State Park unangekündigt einen Besuch abstatteten.
    Poppa tropfte ein wenig Pepsi Cola auf das Ende eines Strohhalms und legte ihn auf unser rot-grünes Strandlaken. Alle Wespen schwirrten zum Strohhalm, und Poppa grinste.
    »Seht ihr, ich löse Probleme mit gesundem Menschenverstand. Wespen mögen Zucker, und solange sie Cola haben, werden sie sich an den Strohhalm halten. Stimmt’s, Keesy?«
    Seit Poppa mir als kleinem Kind angewöhnt hatte, ihm einen Gutenachtkuss auf die Wange zu geben, nannte er mich Kissy (mit seinem spanischen Akzent sprach er es »Keesy« aus). Eine Zeitlang küsste ich alles und jeden: meine Puppen und Stofftiere, sogar mein eigenes Spiegelbild. Poppa nannte mich nur dann Keesy, wenn er mit mir zufrieden war, manchmal auch Baby Bow. Wenn er böse auf mich war, nannte er mich gar nichts, dann sprach er von mir in der dritten Person. Nur selten verwendete er meinen richtigen Vornamen Margaux (ausgesprochen »Margo«), obwohl er selbst mich nach einem edlen französischen Wein von 1976 benannt hatte, den er einmal gekostet hatte: Château Margaux . Meine Mutter sprach er nie mit ihrem Namen Cassie an, auch gab er ihr nie einen Kuss oder umarmte sie. Ich nahm an, das sei überall so, bis ich sah, wie sich andere Eltern küssten, beispielsweise die von Jeff. Ehrlich gesagt, dachte ich, sie wären sonderbar.
    Maria war die beste Freundin meiner Mutter und passte hin und wieder auf mich auf. Jeff war sieben, ein Jahr älter als ich. Wenn wir bei Jeff waren und er sich einverstanden erklärte, sich mit mir Geschichten auszudenken, war ich auch bereit, mit den Actionfiguren von G.I. Joe und den Transformern zu spielen. Ich fand Krieg sterbenslangweilig, dafür hasste Jeff Rate- und Rollenspiele, weil man dafür kein Spielzeug brauchte. Unsere Freundschaft wurde nur durch diese Kompromisse zusammengehalten.
    Mommy und Maria unterhielten sich über die üblichen Mütter-Themen: die Vorteile von Vitamin C, das am Orchard Beach entführte Kind, der kürzlich in einer Achterbahn gestorbene Junge. »Was für eine Schande«, sagte Mommy dann, oder: »Gottes Wege sind unergründlich«. Mommy hatte einen kleinen Spiralblock, in dem sie jedes Unglück notierte, von dem sie im Radio oder Fernsehen hörte. So hatte sie immer etwas Wichtiges zu berichten, wenn sie eine Freundin anrief oder besuchte. Diesen Block nannte sie ihr »Faktenbuch«. Poppa konnte das Faktenbuch nicht ausstehen. Wenn meine Mutter krank wurde, redete sie von hungernden Kindern und anderen schrecklichen Dingen, die sich in der Welt zutrugen. Zu Hause spielte sie unablässig die Platte Sunshine ab, die Aufzeichnungen einer jungen Frau mit tödlichem Knochenkrebs, die ihrem Mann und ihrer Tochter Abschiedsgrüße aufgenommen hatte. Mommy fand das romantisch.
    Ich hörte Maria sagen, dass ich mehr Huhn und Yucca essen müsse, und meine Mutter schrieb es in ihr Faktenbuch. Die beiden konnten sich nicht einigen, was dicker machte: Hühnchen oder Rindfleisch. Poppa stieß Pedro an und sagte: »Was wissen diese Weiber überhaupt? Ich habe mehr Ahnung als beide zusammen. Mädchen sollen nicht so viel Fleisch essen, sonst bekommen sie zu viele Hormone von der Kuh. Schwarze Bohnen und schwarzer Reis, Obst, Spaghetti – das ist das

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