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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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sieht Obstverkäufer mit den billigen Papayas, Mangos und Avocados in ihrer Auslage (mein Vater, ein Avocado-Fan, behauptete immer, sie würden zu ewigem Leben verhelfen), man sieht die unzähligen schwarz gewordenen Kaugummis im rissigen Beton der Bürgersteige. Es ist nicht ungewöhnlich zu hören, wie Kinder im Chor singen: »Trittst du auf die Spalten, sterben deine Alten!«, und da ich abergläubisch war wie mein Vater, mied ich die Risse sorgfältig, was kompliziert war, weil sie den Beton in Zickzacklinien durchzogen wie Wasserläufe eine zerknitterte Landkarte. Ebenso vorsichtig vermied ich es, auf meinen Schatten zu treten, weil ich Angst hatte, meine eigene Seele zu beschädigen.
    Wer Union City besucht, sollte sich auf jeden Fall vor dem Geflügelmarkt Polleria Jorge auf der 42nd Street zwischen New York Avenue und Bergenline Avenue die Nase zuhalten, so stinkt es da. Überquert man die Straße an der Stelle, wo sich zeit meines Lebens das Schuhgeschäft Panda befand, gelangt man zu El Pollo Supremo : Dort empfängt einen wie das Elixier des Atlantiks der freundliche Geruch von Brathähnchen, köchelnder Yucca, schwarzem Reis mit schwarzen Bohnen und frittierten Kochbananen. Peter und ich gingen dort immer essen, und an einem feuchten Halloweenabend während der zwei Jahre, als meine Eltern uns voneinander trennten, hockte er dort in einer einsamen Sitzecke und starrte acht Stunden lang aus dem verregneten Fenster, in der Hoffnung, einen Blick auf mich zu erhaschen, wenn ich mit meiner Mutter von Tür zu Tür zog.
    ***
    Ich besitze noch immer zwölf Spiralblöcke mit datierten Briefen, einen für jeden Tag, die jeweils mit den Worten »Liebe Prinzessin« beginnen. Peter machte ein X für einen Kuss und ein O für eine Umarmung. In jedem Brief brachte er IDADULDFI unter, die Abkürzung von »Ich Denke An Dich Und Liebe Dich Für Immer«. Ich habe sieben Videos, ebenfalls sämtlich datiert, mit Titeln wie Margaux fährt Rollschuh oder Margaux mit Paws oder Margaux winkt hinten auf dem Motorrad .
    Diese Videos sah sich Peter gegen Ende seines Lebens tagtäglich an: Margaux, die sich mit dem Hund Paws auf der Erde wälzt, die auf der Couch Verbrecher spielt, die aus einer Baumkrone winkt, die einen Luftkuss herüberschickt. Jetzt sieht sich niemand mehr Margaux an. Sogar Margaux selbst langweilt der Anblick von Margaux mit Stirnband, Margaux mit abgeschnittener Jeans, Margaux mit nassem Haar, Margaux vor dem Götterbaum, an dem früher die weiße Hängematte hing.
    Ich war Peters Religion. Niemand sonst würde sich für die zwanzig Alben mit den Fotos von mir interessieren: ich allein, mit Paws, mit Karen oder mit meiner Mutter. Das Holzkästchen, das ich in der achten Klasse im Werkunterricht zimmerte, enthält eine lose Fotosammlung, die ebenso unspektakulär ist. Dazu die beiden miteinander verflochtenen Locken, braun und grau, festgehalten für die Ewigkeit. Ein Album mit getrockneten Herbstblättern, darunter die Namen der Bäume, von denen das Laub fiel: Zuckerahorn, Schwarzeiche, Amberbaum. Mein glitzernder Feenstab, meine kleinen grauen Filzmäuse, die Peter bei einem Streit wegwarf, aber später wieder aus dem Müll holte, der schmiedeeiserne Schlüssel, den wir am Bootsanleger fanden, meine silbernen Armreifen und das riesige goldene Kreuz, das ich im West Village kaufte, die schwarzen Leggings (meine » Madonna -Hose« nannte Peter sie immer), die kurze schwarze Halskette mit dem silbernen Herzen, mein roter Spitzenbody und die Bikerhose aus Vinyl, die Peter mir schenkte, das Buch über Wicca-Zauber, Kassetten mit Liedern von Nirvana , Hole und Veruca Salt für unsere Autofahrten, raubkopierte Nirvana -Videos, die ich ebenfalls im West Village bekommen hatte, Kassetten mit Aufnahmen von unseren vier Romanen (jede Figur mit einer anderen Stimme gesprochen), ein Holzamulett von Peter, auf dem eine Fee in eine Kristallkugel schaut. Das alles bewahrte er in einer schwarzen Truhe mit einem kaputten Riegel auf, die am Fußende seines Bettes stand.
    ***
    Peter, am Ende deines Lebens konntest du nur noch wenige Häuserblocks weit gehen und nicht mehr Motorrad fahren. Du liefst zu Fuß den kurzen Weg zum Rand des Felsens im Palisades Park, machtest noch einen Schritt nach vorn und fielst gute achtzig Meter in die Tiefe, wie es im Polizeibericht steht. In meinen Briefkasten hattest du einen Umschlag mit zehn Abschiedsbriefen und mehreren Mitteilungen auf liniertem Papier geworfen, in denen du mir dein Auto

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