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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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machen wir eigentlich, wenn wir ihn treffen?«
    »Reden«, sagte Jonas. »Und jetzt halt die Klappe.«
    »Und wenn er keine Lust hat, zu reden, sondern Hunger?«
    Jonas starrte Lippe wütend an und hob vom Boden ein paar große Schottersteine auf. »Dann soll er Steine fressen«, zischte
     er.
    |47| Lippe bückte sich ebenfalls. Mit den Steinen in den Händen schlichen sie durch die Baugrube.
     
    Obwohl Jonas und Lippe noch immer die Sonne auf den Scheitel brannte, war es am Grund der Baugrube kühl. Und still. Die Geräusche
     der Siedlung – Kindergeschrei, Hundegebell, Motorengebrumm – drangen kaum herunter.
    Auch Lippe war jetzt still. Die beiden Jungen schoben sich um einen Turm aus Containern herum. Dahinter, im Schatten, stand
     ein blaues WC-Häuschen aus Plastik. Daneben breitete sich eine große Pfütze aus. Vorsichtig gingen sie am Rand der Pfütze
     entlang.
    »Da!« Jonas blieb stehen und deutete nach unten. Im feuchten Boden war der Abdruck einer Pfote zu erkennen, groß wie eine
     Bratpfanne.
    »Er hatte Durst«, flüsterte Jonas.
    »Hunger hat er bestimmt immer noch«, murmelte Lippe.
    Jonas suchte den nächsten Abdruck. Die Richtung der Spur war eindeutig. Sie führte direkt auf die mit Brettern verschalte
     Grubenwand zu. Vorn war kein Eingang zu sehen, aber seitlich entdeckten Jonas und Lippe eine Öffnung, vor der eine schwere
     dunkelgrüne Plastikplane hing. Jonas schluckte, holte Luft und hob die Plane zur Seite. Hinter ihm stöhnte Lippe auf, folgte
     ihm aber. Mit einem leisen Knall fiel die Plane hinter den beiden wieder vor die Öffnung. Dunkelgrüne Düsternis umschloss
     sie.
    Jonas erkannte eine hohe runde Öffnung aus Beton. |48| Eine Abwasserröhre. Es musste so sein, wie sie vermutet hatten: Die Röhre, in der sie den Tiger zurückgelassen hatten, verband
     die Baugrube mit dem Hauptarm der Kanalisation.
    Lippes Finger krallten sich plötzlich in Jonas’ Oberarm, und er sah, was Lippe sah. In der Dunkelheit der Röhre lag ein schwarzer
     Haufen, in dem zwei grünliche Punkte glommen.
    »Lasst mich in Frieden, ihr bösen Buben.« Die Worte waren kaum zu verstehen, mehr gefaucht als gesprochen. »Ich sehe doch
     die Steine in euren Händen. Mörderpack!« Die Stimme klang brüchig, fast schrill, immer wieder unterbrochen von tiefen Knurr-
     und Grolllauten. Jonas und Lippe ließen die Steine fallen.
    »Eure Steine braucht es nicht. Das hier wird mein Grab, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Grausame Kinder. Lasst
     mich in Frieden. Ein altes Weib stirbt so oder so einmal …« Das Fauchen wurde leiser.
    »Aber Sie sind ein Tiger, ein riesiger Tiger!« Das war Lippe.
    Es folgte eine Stille, in der alle auf etwas zu warten schienen. Die Augen in der Röhre pendelten langsam hin und her. Ein
     eigentümliches Schnaufen war zu hören, und dann brüllte der Tiger. So laut und fürchterlich, dass Jonas schwarz vor Augen
     wurde. Aus dem Gebrüll glaubte er, ein »NEIN!« herauszuhören.
    Als seine Benommenheit wich, spürte Jonas, wie Lippe neben ihm zitterte. Genau wie er selbst. Er |49| musste jetzt etwas sagen, sonst würde er sich nie mehr trauen.
    »Können wir Ihnen irgendwie helfen?«, stotterte er. Wieder dehnte sich die Stille aus, bis sie in Jonas’
    Ohren zu pochen begann.
    »Ich hab meinen Lebtag noch nicht so gestunken.« Die kratzende Stimme klang weinerlich. »Und ich möchte sauber sterben.«
    »Klar«, sagte Lippe, »das verstehen wir gut, besser als gut, am allerbesten von allen …« Er zog Jonas auf die Plane zu.
    »Wir holen Wasser«, sagte Jonas noch schnell, bevor er im Freien verschwand.
     
    »Nase, der spinnt total!«, platzte es aus Lippe heraus, nachdem sie ein paar Schritte schweigend nebeneinanderher getrottet
     waren. »Ich sag dir, der hat einen Dachschaden, der Tiger. Hält sich selbst für ein altes Weib! Der Dachschaden ist wahrscheinlich
     auch schuld daran, dass er sprechen kann. Da ist irgendwie irgendwas falsch geschaltet in diesem Tigerhirn …«
    Jonas hörte kaum hin. In der Stimme des Tigers war etwas sehr, sehr Trauriges gewesen. Und Jonas verstand den Wunsch nach
     einem Bad – der Tiger musste sich fühlen wie ein getrockneter Kuhfladen.
    »Wir müssen ihn duschen«, meinte Jonas. »Das ist idiotisch!«, sagte Lippe, wusste dann aber genau, wie sie es machen mussten.
    Bei den Baugeräten fanden sie eine Schubkarre, |50| einen Eimer und einen Straßenbesen mit langen roten Borsten.
    »Wir werden ihn striegeln wie ein Pferd«,

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