Tiger Unter Der Stadt
Pranken. Das Fell dampfte in der Sonne und die schwarze Zeichnung hob sich immer deutlicher
ab. Wie dünne schwarze Flammen züngelten die Streifen in dem gelbbräunlichen Fell, das zum Bauch hin weiß wurde. Auch hinter
den Backen hatte der Tiger so lange und dichte weiße Haarbüschel, dass sein Kopf ganz breit wirkte. Die kleinen runden Ohren
unterstrichen diesen |54| Eindruck. Die gelben Augen waren im Moment geschlossen und Jonas war froh darüber. Den kalten Blick ertrug er nur schwer.
An der Unterseite der Pfoten erkannte Jonas dicke rosige Ballen. Der Schwanz war lang und buschig. An seiner Spitze hing noch
ein Papierfetzen aus der Kanalisation. Dieser Tiger war größer und schöner als alle Zootiger, die Jonas bisher gesehen hatte.
Ein richtiges Prachtexemplar.
Lippe wurde unruhig. »Sag was«, flüsterte er Jonas zu.
»Was denn?«
Lippe zuckte die Schultern. Jonas dachte nach. Bloß nicht übers Essen reden, das war klar. »Wir wohnen gleich hier in der
Hochhaussiedlung, ähm … Und wo wohnen Sie?«
Missmutig öffnete der Tiger die Augen. »Ich wohne in Richtung Klärwerk. In der Keunerstraße.«
Jonas und Lippe sahen sich an. Lippe verdrehte die Augen und zuckte mit dem Kopf; ›Lass uns verschwinden!‹, hieß das. Aber
Jonas wollte es jetzt wissen. »Aber in der Keunerstraße gibt es keinen Zoo und auch kein Tierheim. Da wohnen nur Menschen.«
»Ich bin ein Mensch«, fauchte der Tiger. »Ich heiße Kunigunde Ohm, bin achtundsiebzig Jahre alt und wohne in der Keunerstraße.«
Er wurde lauter. »Ich war eine der ersten Mieterinnen da. Mit diesem Fleischberg hab ich nichts zu schaffen. Diese Pratzen
sind doch schrecklich. Ich habe Hände, keine Krallen. So was kann es nicht geben, das versteht doch kein Mensch … Das ist
doch FÜRCHTERLICH.«
|55| Der Tiger warf den Kopf hin und her und wälzte sich, als ob er starkes Bauchweh hätte. Endlich rollte er herum und stützte
sich auf die Vorderpfoten. Ratlos sahen sie einander an: der Tiger die Jungen, die Jungen den Tiger.
Nach einer Weile begann er wieder zu sprechen, erst stockend, dann immer flüssiger: »Vor zwei oder drei Tagen … Ach, alles
ist so durcheinander, ich kann mich gar nicht mehr gut erinnern … aber es kann ja noch nicht so lange her sein, also vielleicht
auch erst gestern oder vorgestern … Das Wetter war schön. Der Ischias war nicht so schlimm, Blutdruck hab ich gar nicht erst
gemessen, da geht es mir gleich besser ohne dieses dumme Gerät. Die Tabletten hatte ich alle geschluckt, meinen Blasentee
getrunken, und ein Nickerchen hatte ich auch schon hinter mir … Ein Tag, ach, einfach wunderbar. Heute trauste dich noch mal
was, hab ich mir gedacht. Komm, Teichmännle, hab ich gesagt, wir gehen noch mal raus und betrachten den Sonnenuntergang. Es
war so warm, dass ich sogar den Sommerschal hab hängen lassen. Es muss mir wirklich gut gegangen sein. Sonst plagt mich doch
bei jedem Wetter der Hals. Zu gut wird es mir gegangen sein. Das ist es! Jedenfalls sind Herr Teichmann und ich die Keunerstraße
runter und durch die Baalstraße hinter zum Klärwerk. Herr Teichmann und ich mögen die Wiese hinter dem Klärwerk so gern. Da
wachsen schöne Blumen, ein ganzes Blütenmeer in allen Farben. Wenn mich nicht der Ischias immer so plagen würde und ich mich
besser bücken könnte, ach |56| dann …? Das Abendrot war jedenfalls prächtig, und wir gingen wie immer den kleinen Weg am Zaun entlang. Jedes Mal staune ich,
was für komische Büsche und Bäume da hinter dem Zaun wachsen und immer wieder neue, ein richtiger Dschungel. Und so ein Dickicht,
dass man aber auch gar nichts erkennen kann. Die haben eben eine Menge Mist zu verbergen, sag ich dann immer zu Herrn Teichmann.
Wir waren schon halb um das Klärwerk herum, da hat Herr Teichmann mit einem Mal angefangen, ganz erbärmlich zu jammern, obwohl
er sonst sehr mutig ist. Und als ich genauer hinseh, funkelt etwas hinter dem Zaun, unter so einem riesigen dunkelgrünen Blatt.
Augen waren das! Und ein Blick, der mir durch Mark und Bein ging. Und dann … es war grauenhaft. Ein Tiger, ein riesiger Tiger!
Herr Teichmann war außer sich …«
»Ist das Ihr Mann?«, fiel Lippe dem Tiger ins Wort. Jonas staunte. Was war mit Lippe los – seine Angst schien wie weggeblasen.
»Herr Teichmann ist mein kleiner weißer Spitz«, kam es dumpf aus der Tigerkehle.
»Ist aber ein komischer Name für einen Hund«, meinte Lippe.
»Herr Teichmann
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