Tiger Unter Der Stadt
sagte Lippe und erbleichte, als ihm klar wurde, wie nahe sie dem Tiger kommen würden.
In der Nähe der Container entdeckten sie einen Wasserhahn. Sie ließen die Schubkarre volllaufen und schoben alles zu dem Röhreneingang.
Jetzt, da ihm die Angst nicht mehr alle Sinne betäubte, traf Jonas der Gestank hinter der grünen Plane wie ein Schlag. Es
war wirklich Zeit, dass der Tiger gewaschen wurde!
»Wir müssen uns vorher ausziehen«, flüsterte Jonas. »Sonst stinken unsere Klamotten wieder genauso wie gestern. Das kann ich
auf keinen Fall riskieren.«
Die Jungen warfen ihre Kleider ab. Splitternackt und bebend vor Aufregung und Kälte standen sie vor dem schwarzen Röhrenschlund,
aus dem es ihnen kalt und feucht entgegenschlug.
»Wir haben Wasser!«, rief Jonas in die Röhre. Er war stolz, dass seine Stimme kaum noch zitterte.
»Ich kann nicht herauskommen«, kam es dumpf zurück. »Ich habe ja nicht einmal ein Hemd auf dem Leib.«
»Wir auch nicht«, rief Jonas.
»Guter Gott«, krächzte es aus der Dunkelheit. »Sodom und Gomorrha.«
Jonas zuckte mit den Schultern. »Jonas und Philipp heißen wir, und wir kommen jetzt zu Ihnen.«
Langsam rückten sie vor. Jonas kämpfte mit der wassergefüllten Schubkarre, Lippe hielt den Besen wie |51| eine Lanze. Nach etwa fünf Metern tauchte in der Dunkelheit der Umriss des Tigerschädels auf. Lippe konnte einen kleinen Schrei
nicht unterdrücken.
»Sehe ich so schlimm aus?«, knurrte der Tiger.
»Bestimmt nicht«, sagte Jonas und schöpfte den Eimer voll Wasser. »Aber es ist ja sowieso stockdunkel. Wir waschen Sie jetzt,
Frau Ohm.«
»Auf keinen Fall den Kopf zuerst«, fauchte es aus der Dunkelheit. »Erst die Füße, dann die Beine, zum Schluss den Kopf, wegen
der nassen Haare. So mach ich das seit über siebzig Jahren.«
Der Tiger drehte sich in der Röhre. Dabei streifte sein Fell Jonas’ Oberarm. ›Wie ein hart gewordener Pinsel‹, dachte Jonas,
während sich sein Arm mit einer Gänsehaut überzog. Allein die Nähe der großen Raubkatze war beängstigend, aber nackt ohne
jeden Schutz war es noch schlimmer! Jonas wurde auf einmal klar, wie dünn seine Haut war, dünner als Papier. Eine leichte
Berührung mit einem spitzen Gegenstand, zum Beispiel einer Kralle, und sie würde reißen. Aber Jonas hatte nicht nur Angst.
Er verstand jetzt auch die Scham des Tigers und war froh um die Dunkelheit, in die nur spärliches Licht aus dem dunkelgrünen
Vorraum sickerte.
Eimer um Eimer goss Jonas über den Tiger, und Lippe schrubbte, was das Zeug hielt. Die Brühe, die aus dem Tigerfell lief,
stank genauso bestialisch wie der Abwasserkanal, durch den sie gestern geschlichen waren. Sie arbeiteten schweigend. Nur der
Tiger wimmerte ab und zu: »Ist das scheußlich.«
|52| Als Jonas den Kopf waschen wollte, krächzte er: »Vorsichtig, ganz vorsichtig, dass mir nichts in die Augen rinnt.«
Das war aber nicht zu verhindern. »Lieber Herrgott, hilf mir, die ersäufen mich«, keuchte der Tiger, als das Wasser über seinen
Kopf lief.
Zum Schluss gossen sich Jonas und Lippe ebenfalls einen Eimer Wasser über den Kopf. Schlotternd standen sie danach in der
Röhre.
»Wir müssen raus hier, in die Sonne.« Lippes Zähne schlugen aufeinander. Jonas konnte nur nicken. Sie liefen zu ihren Kleidern,
rieben sich mit ihren T-Shirts trocken und zogen sich an.
»Mir ist bitterkalt.« Dumpf und erbärmlich kam die Tigerstimme aus der Röhre. »Und dieses Fell hängt wie ein nasser Sack auf
meinen Knochen … Nehmt mich mit … Bitte.«
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|53| Das Grauen hinterm Zaun
Jonas ging voran. Der Tiger folgte und Lippe bildete das Schlusslicht. Steif stakste der Tiger von Deckung zu Deckung, mit
hängendem Kopf, den er ab und zu hochriss, als ob ihn etwas erschreckt hätte. Er glich mehr einem müden und scheuen Pferd
als einem Raubtier.
Endlich fanden sie einen versteckten und sonnigen Platz für den Tiger: die breite Schaufel eines Baggers. Das Innere der Schaufel
war vom Rand der Grube aus nicht einzusehen. Umständlich ließ sich der Tiger in der Schaufel nieder. Er wirkte völlig erschöpft.
Die beiden Jungen lehnten sich der Baggerschaufel gegenüber an einen Holzstapel. Die Hitze drang allmählich durch ihre feuchte
Kleidung, und das tat gut. Vollkommen still lag der Tiger vor ihnen. Nur der Atem hob und senkte den riesigen Körper. Zum
ersten Mal konnten sie ihn in Ruhe betrachten.
Der Kopf lag auf den beiden vorderen
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