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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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war ein Lehrer, den ich als Kind ertragen musste«, sagte der Tiger. »Ich hab ihn so genannt, weil ich mir
     ihn immer als kleines weißes Hündchen vorgestellt habe, das vor der Tafel steht und kläfft. So hatte ich weniger Angst vor
     ihm und sein miserabler Unterricht war leichter zu überstehen.«
    |57| Der Tiger ließ den mächtigen Kopf hin und her pendeln. Er schien nachzudenken. Mit einer Art Ruck fing er wieder an zu sprechen.
     »Auf einmal sprang das grauenhafte Vieh mit einem Satz über den Zaun. Herr Teichmann war außer sich vor Angst. Er riss und
     zerrte wie verrückt an der Leine, aber ich konnte keinen Finger rühren. Steif wie ein Stock stand ich da. Ich wollte schreien,
     aber es ging nicht. Bewegen konnte ich mich auch nicht. Nur in die gelben Augen starren. Und dann … ich kann mich nicht mehr
     erinnern, aber es war grauenhaft. Ganz, ganz grauenhaft … Oh Gott.«
    Jonas’ Mund war leicht geöffnet, Lippes Kinnlade hing weit herunter.
    »An die stinkende Brühe und den fürchterlichen Kanal kann ich mich wieder erinnern«, fuhr der Tiger fort. »Ich glaube, ich
     bin von dem Gestank immer wieder in Ohnmacht gefallen, aber dann lief mir gleich die scheußliche Brühe in die Ohren. Brrrr,
     war das ekelhaft. Ich wollte schwimmen, aber es ging nicht. Ich konnte meine Beine und Arme nicht mehr bewegen wie früher,
     ich konnte nur strampeln, wie Herr Teichmann. Zuerst dachte ich, dass muss der Ischias sein, jetzt ist es so schlimm, dass
     ich mich fast nicht mehr rühren kann, aber dann bemerkte ich, wie ungeheuerlich riesig und schwer meine Arme und Beine waren.
     Und dass irgendetwas an meinem Rücken festgewachsen war … Als ich dann noch sah, welche Angst ich euch einjagte und dass ich
     am ganzen Leib behaart war und das Ding an meinem Rücken ein |58| Schwanz … da dachte ich: Jetzt bist du in der Hölle und der Leibhaftige hat dich in einen Teufel verwandelt!«
    Der Tiger ließ einen jaulenden Laut hören und verstummte.
    Plötzlich hob er den Kopf. »Sagt es mir aufrichtig: Bin ich jetzt diese gestreifte Bestie?«
    Jonas nickte. Der Tiger sackte zusammen.
    Der letzte Boxkampf, den Jonas gesehen hatte, schob sich in seinen Kopf: wie der Herausforderer, zermürbt und angeschlagen,
     von einer läppischen Geraden niedergestreckt wurde. Dieses Bild wurde plötzlich von dem Gedanken an sein Zimmer verdrängt,
     das er dringend mal wieder aufräumen musste, der Vater fiel ihm ein, wie er in der Küche saß und Zeitung las, Vera, die dumpf
     brütend auf einem Stuhl hockte, die Mutter, die Milchtüten in den Kühlschrank räumte. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf,
     aber nirgends blieben seine Gedanken hängen. Sie huschten von einem Bild zum nächsten; nur den Tiger, die alte Frau Ohm und
     den kleinen Hund sah er kein einziges Mal. Er konnte sich das nicht vorstellen. Und er wollte es sich auch nicht vorstellen.
     Das gab es einfach nicht!
    Irgendwann sah Jonas wieder die Schottersteine zwischen seinen Füßen, spürte, wie ihm etwas hart in den Rücken drückte. Ein
     Balken. Er warf einen Blick zu Lippe. Der saß mit leuchtenden Augen da und starrte den Tiger an. Seine riesige Unterlippe
     bebte. Ein untrügliches Zeichen: Ihm brannte etwas auf der |59| Zunge. »Das ist doch fantastisch!«, platzte er heraus. »Sie sind jetzt ein Tiger. Die stärkste Raubkatze, die es gibt. Sie
     können sieben Meter weit springen und mit einem Schlag Ihrer Pranke eine Kuh töten. Oder sogar einen Stier!«
    »Kühe sind brave Tiere«, brummte der Tiger. »Ich will auf meinen Balkon, zu meinen Blumen. Die müssen gegossen werden. Wie
     soll ich denn so Tee trinken? Ich kann ja nicht mal mehr Wasser aufsetzen.« Frau Ohm streckte die Vorderbeine und spreizte
     die Pfoten. Die Krallen, die sie dabei ausfuhr, waren groß wie Kleiderhaken. »Was soll ich damit? Die Pantoffeln, mein Bett,
     meine Kleider, das wird ja alles hin und zu klein ist es außerdem.«
    Jonas musste gegen seinen Willen grinsen. »Der Pelz steht Ihnen aber gut, richtig schöne Streifen.« Und das war die Wahrheit.
     Der Tiger gefiel ihm immer besser, je weniger Angst er vor ihm hatte.
    »Was soll ich nur tun?«, raunzte der Tiger. »Wenn mich Frau Fischler so sieht, weiß es sofort das ganze Haus. Ich kann doch
     so nicht … Das geht doch alles nicht …«
    Der Tiger grollte und stöhnte vor sich hin.
    »Wir brauchen einen Plan«, sagte Lippe. »Einen Schutz- und Rettungsplan. Und ich hab auch schon einen.«
    Der Tiger blinzelte

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