Tiger Unter Der Stadt
gebannt zu, wie sie das Fleisch seitlich zwischen die
Zähne nahm, einzelne Fetzen abriss und sie ohne zu kauen hinunterschlang.
Als sie an diesem Abend aus der Baugrube stiegen, fragte Jonas: »Glaubst du, sie hat recht und der Schlittenfahrer weiß, dass
sie da ist?«
Lippe fuhr sich mit den Händen durch die Locken. »Mensch, Nase, woher soll ich das wissen? Ich weiß |113| auch nicht, warum der bei dieser Hitze auf einem Schlitten sitzt und vor sich hin brabbelt. Es könnte sein, dass er einfach
spinnt, weil er so weit weg ist von zu Hause. Meine Oma hat mir von Russen erzählt, die in der Fremde durchgedreht sind. Sind
einfach losgerannt Richtung Heimat, ohne Essen, ohne Geld. Falls er aber nicht spinnt und weiß, dass in der Röhre ein Tiger
steckt, dann benimmt er sich sehr eigenartig. Oder würdest du dich jeden Abend vor einen offenen Tigerkäfig setzen? Ich nicht!«
»Tante Tiger benimmt sich aber auch komisch«, sagte Jonas, der vor allem verwirrt war. »Nicht mehr wie eine alte Frau.«
»Stimmt«, sagte Lippe. »Gestern hat sie zum ersten Mal den Kuchen verschmäht. Dabei war das eine Schwarzwälderkirschtorte
aus dem Gefrierfach. Ihr Lieblingskuchen.«
»Geht mir weg mit dem Zeug!« Jonas sprach so tief und heiser er konnte. »Davon bekomm ich nur Bauchweh und außerdem sparen
die Halunken immer mehr am Zucker, das schmeckt überhaupt nicht mehr süß.«
Lippe grinste und ahmte ein missbilligendes Maunzen nach, das Tante Tiger jetzt öfter hören ließ, dann sagte er: »Hast du
gewusst, dass Tiger nichts Süßes schmecken können?«
»Woher willst du das wissen?«
»Hab ich gelesen. Ihre Geschmacksnerven für ›süß‹ sind verkümmert. Das ist bei allen Katzen so, ist so was wie ein Fehler
im Erbmaterial. Umso besser arbeiten |114| dafür ihre Geschmacksnerven für ›Schweiß‹ und ›Blut‹. Deswegen sind sie auch so gefährlich. Aber Zucker ist für sie wie für
uns …«
»… Grünkohl!«, fiel ihm Jonas ins Wort.
»Genau! Schwarzwälderkirschtorte mit Grünkohlgeschmack.«
Sie lachten, bis Jonas sagte: »Sie fragt auch nicht mehr nach ihren Blumen, ihrer Wohnung und wie das überhaupt weitergehen
soll.«
Lippe zuckte die Achseln und Jonas schwieg.
Das Geld würde vielleicht noch zwei oder drei Wochen reichen. Und dann? Wenn sie mit Tante Tiger darüber sprachen und vorschlugen,
noch einmal zum Klärwerk zu gehen, legte der Tiger die Ohren an und jammerte: »Aaaaaaaach, ich kann mich kaum rühren, so plagt
mich seit kurzem wieder der Hexenschuss …« Und wenn es nicht der Hexenschuss war, dann waren es plötzliche Schwindelgefühle,
starke Müdigkeit oder heftige Gliederschmerzen.
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|115| Der Cousin im Kofferraum
Zwei Tage später erfuhr Jonas, dass Tante Tiger ganz andere Dinge zu schaffen machten als Hexenschüsse und Gliederschmerzen.
Er kam vom Blumengießen aus Tante Tigers Wohnung, hatte die Puntilastraße gerade hinter sich gelassen und wollte Richtung
Baugrube abbiegen, da hörte er hinter sich ein lautes Surren. Zwei Fahrräder schossen links und rechts an ihm vorbei und kamen
mit quietschenden Reifen zum Stehen. Bschu und Büm, die beiden Türkenmädchen.
»Wo ist denn deine verrückte Braut mit den hübschen Locken?«, fragte Bschu. Wieder waren alle ihre Kleidungsstücke schwarz
oder weiß.
»Was geht euch das an?«, fragte Jonas und kniff die Augen zusammen; beide Mädchen kauten wieder Kaugummi. Das machte ihn nervös.
»Wir denken eben nach«, sagte Bschu, »über die Liebe, ein großes und mächtiges Ding. Hast du schon mal nachgedacht über Liebe?«
»Nee«, sagte Jonas, »wir müssen uns um wichtigere Sachen kümmern.«
»Um den Tiger«, kicherte jetzt Büm.
»UUUUUHHH …«, machte Bschu und riss die Augen auf. »Der große böse Tiger und die beiden kleinen Jungs. Ob das gut geht? Aber
die Liebe ist stärker |116| als der grausame Tiger. Kann sein zu deinem Glück oder deinem Unglück.«
Jonas wusste nicht, was Bschu wollte, und auch nicht, was er sagen sollte, und das machte ihn wütend: »Halt die Klappe, sonst
stell ich ihn dir mal vor. Hühner frisst er am liebsten.«
»Aber er mag kein türkisches Heavy Metal«, sagte Bschu und grinste, als sie sah, wie verblüfft Jonas war. »Siehst du, wir
kennen euer Kätzchen, stimmt’s, Büm?« Unter Kichern brachte Büm hervor: »Ja, wir kennen jemand, der es gesehen hat.«
Jonas fühlte sich wie ein Fisch, wenn er einen Köder sieht. ›Was soll das
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