Tiger Unter Der Stadt
noch immer versuchte, sich Lippe in der Küche vorzustellen.
»Meine Mutter hat gesagt, ich soll eine Suppe kochen. Aber das dauert viel zu lang. Da muss man alles Mögliche kleinschneiden
und dann in der richtigen Reihenfolge in den Topf schmeißen. Ich koch das Rezept von Tante Tiger. Pellkartoffeln mit fertigem
Kräuterquark. Und hinterher gibt’s Torte.«
»Und danach sieben Kilo rohes Fleisch«, grinste Jonas.
|140| Jetzt lächelte auch Lippe, wurde aber schnell wieder ernst: »Traust du dich denn allein?«
»Geht schon klar«, sagte Jonas und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Aber mit dir wär’s besser.« Er sah seinen Freund
an. »Ich kann ja die beiden Kaugummihühnchen als Verstärkung mitnehmen. Du hast sie ja schon eingeweiht.«
»Nimm lieber die Vampirviper mit. Die hält dir die beiden Hühner vom Leib und den Tiger, falls er aufdringlich werden sollte.«
Lippes Lippen kräuselten sich. »Und damit du auch sehen kannst, wenn sich eine der vielen Bestien auf dich stürzt …« Er zog
seine Stirnlampe aus der Tasche und hielt sie Jonas hin. »Hier. Leih ich dir. Ich muss jetzt weg.«
Gegen sechs Uhr abends zockelte Jonas die Begbickstraße hinunter zum Supermarkt. Hinter ihm quietschte das leere Handwägelchen
aus Tante Tigers Wohnung. So musste er das Fleisch nicht mühsam bis zur Baugrube schleppen.
Igor, der Schweinskopf, stand am Hintereingang zwischen Bergen von Kartons und rauchte. Als er Jonas mit dem Omawagen kommen
sah, verschwand er durch eine Metalltür. Kurz darauf war er mit einer großen Plastiktüte zurück. Er half Jonas, das Fleisch
in einer der Packtaschen zu verstauen, steckte das Geld ein und ging plötzlich in die Knie, sodass sein Gesicht wie ein rosiger
Vollmond direkt vor Jonas’ Nase schwebte. Gleichzeitig legte sich eine Hand schwer auf Jonas’ Schulter: »Pass auf, kleiner
Freund«, |141| sagte Igor, »könnte sein, dass dir ein Mäuschen heute an den Speck will.« Dann schlug er Jonas auf die Schulter, zwinkerte
ihm mit einem seiner Schweinsäuglein zu und erhob sich.
»Hab keine Angst vor Mäusen«, murmelte Jonas, packte den Handwagen und ging davon. Hinter sich hörte er das ›Ratsch!‹ eines
Streichholzes, mit dem Igor sich wieder eine Zigarette anzündete.
Normalerweise war Igor schweigsam und kümmerte sich nur um das Geld, das sie ihm brachten. Wollte er ihm Angst machen? Aber
doch nicht mit einer Maus! Jonas beschloss, dass Igor eben doch so dämlich war, wie er aussah, und die Bemerkung nichts zu
bedeuten hatte.
An der Baugrube angekommen, legte sich Jonas auf den Bauch und schob seinen Kopf vorsichtig über den Grubenrand. Der Schlittenfahrer
war noch da. Er saß jetzt fast neben dem Bretterverschlag, der die Öffnung der Röhre verbarg. Rauch quoll ihm aus Mund und
Nase. Als er zu Ende geraucht hatte, tat er etwas, das er noch nie getan hatte: Er nahm den Schlitten mit! Wollte er verschwinden?
Jonas wusste nicht, warum, aber die Vorstellung, dass der Schlittenfahrer nicht mehr wiederkommen würde, störte ihn. Er gehörte
fast schon zu Tante Tiger, seine Anwesenheit war ein Zeichen, dass alles war wie immer.
Jetzt hatte er das obere Ende der Schotterrampe, die aus der Grube führte, erreicht. Er blieb stehen und blickte in Jonas’
Richtung. Es war nicht weit, er musste |142| sehen, dass dort ein Junge auf dem Boden lag. Unwillkürlich hielt Jonas die Luft an. Der Schlittenfahrer hob die Hand in Jonas’
Richtung und rief ihm etwas zu. »Drahtflechter … wir müssen fort!«, verstand Jonas. Der Schlittenfahrer ließ die Hand wieder
sinken und entfernte sich. Jonas sah ihm nach, bis er zwischen den Kiefern jenseits der Grube verschwand. Die Bäume wirkten
wie ein stilles Publikum, das auf etwas wartete.
Jonas war verwirrt. Der Mann mit dem traurigen Lächeln hatte ihm etwas sagen wollen. Noch während Jonas überlegte, ob das
jetzt gut oder schlecht war, breitete sich in ihm allmählich Erleichterung aus. Bis in die Haarwurzeln, die Fingerspitzen,
die Zehen. Und plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
Den holpernden Omawagen hinter sich herziehend, stieg Jonas hinunter in die Grube. Die Baustelle hatte sich in den letzten
zwei Wochen verändert. Die Kiesberge waren verschwunden, ebenso die Bagger. Dafür stapelten sich überall dunkle Gittermatten
aus Eisen, das mit hellorangenem Rost überzogen war. Dazwischen lagen Bündel mit Eisenstangen. Jonas fiel auf,
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