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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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fünfzig Grad Celsius?«
    |220| »In bitteren Wintern ist es an den kalten Tagen so kalt, dass dir die Augen zufrieren, wenn du sie nicht oft genug auf und
     zu machst«, sagte Ulla und blinzelte Lippe zu.
    »Aaaaaaah«, seufzte Tante Tiger. »Klingt nach einem angenehmen Klima.«
    »Ja«, entgegnete Ulla. »Hier ist es zu warm, um froh zu sein.« Er schwieg kurz und der Lärm der wilden Feier schien lauter
     zu werden.
    »Uganulla Quai war einer der besten Jäger der Nanai«, fuhr Ulla nach einer Weile fort. »Er hatte noch viel Kraft, trotz vieler
     Jahre, und wusste fast alles, weil er schon fast alles gesehen hatte. Er jagte den Fisch und den Bär, den Wolf und den Axishirsch
     und jedes andere Tier, dessen Spur er sah. Die Erde und der Schnee sind wie eine Zeitung, in der jeder lesen kann, was vor
     Kurzem geschehen ist. Nur einer Spur, der folgte Uganulla nie. Wenn er sie sah, presste er das Gesicht in den Pfotenabdruck,
     um seine Achtung auszudrücken, und ging in eine andere Richtung davon. Es waren die Abdrücke des mächtigsten Wesens der weiten
     Wälder: Amba, der Tiger. Er ist der Geist meines Landes und die Nanai jagen und töten ihn nicht. Er ist heilig. Wer ihn sieht,
     stirbt oder ist ein begnadeter Mann, dem in Zukunft keine Beute mehr entgehen kann.«
    Tante Tiger, Lippe und Jonas saßen bewegungslos da und lauschten dem Singsang von Ullas Stimme, fast war es ein Lied, eine
     Ballade aus dem fernen Land Sibirien.
    »Es war ein schöner Tag im Winter. Über Nacht war |221| frischer Schnee gefallen und bedeckte alles wie ein großer glitzernder Pelz. Ich ging allein in den Wald. Ich hatte ein Gefühl,
     als ob ich heute große Beute machen würde. Meine Nase«, Ulla sah kurz auf und blickte Jonas an, »zog mich in eine felsige
     Gegend, in die wir nicht gerne gingen, weil dort der Tiger herrscht. Um aber seltene Beute zu machen, musst du seltene Wege
     gehen. Plötzlich sah ich eine Spur im frischen Schnee. Es waren die Pfoten einer Katze, so groß wie ein Ohr. Zu klein für
     einen Tiger. Es war aber auch kein Luchs, die Abdrücke waren zu rund und die Katze zu klein. Sie hatte sich richtig durch
     den frischen Schnee gekämpft. Ein Luchs mit seinen langen Beinen geht anders. Ich folgte der Spur und wusste, dass es falsch
     war. Aber es trieb mich den kleinen Pfoten hinterher. Ich musste nicht weit gehen. Auf einem umgestürzten Stamm saß es und
     kämpfte gegen die toten Äste: ein Tigerkind, nur halb so groß wie unsere Hunde. Es war nur einige Monate alt. Ich glühte vor
     Freude. Kaum jemand bekommt Amba zu Gesicht und seine Kinder vielleicht ein Mann in hundert Jahren. Es war ein besonderer
     Tag. Ein schlimmer Tag. Ein Grollen wie von einem Gewitter zerriss meine Freude. Hinter mir, nur einen Steinwurf weit, saß
     Amba mit peitschendem Schwanz und geducktem Kopf. Es war die Mutter und ich stand zwischen ihr und ihrem Kind – der schlimmste
     Platz, den es für einen Nanai gibt. Flucht war unmöglich. Friede auch. Der Tiger musste mich töten, ich war seinem Kind zu
     nahe. Ich sah den Angriff in seinen Augen. Als er |222| sprang, riss ich mein Gewehr hoch und schoss. Ich konnte nicht anders, ich war wie jemand, der die Hand hochreißt, weil die
     Sonne ihn blendet … Ich war ein guter Jäger, aber kein guter Mann meines Volkes. Ich erlegte Amba, den großen Tiger, mit diesem
     einen Schuss.
    Ich fiel neben ihm in den Schnee und weinte, bis ich den kleinen Tiger hörte, der schreiend neben seiner Mutter saß …
    Ich hatte ein großes Verbrechen begangen und mein Volk, die Nanai, verbannten mich dafür aus meinem Land. Nie mehr darf ich
     die Wellen des Ussuri sehen.« Ulla saß bewegungslos auf seinem Schlitten. Die Zigarette war ausgegangen und sein Gesicht war
     völlig ruhig.
    »Aber der Tiger wollte Sie umbringen. Hätten Sie sich fressen lassen sollen?«, fragte Jonas.
    »Ja«, sagte Ulla. »Ein Nanai darf Amba nicht töten. Nie.«
    »Der kleine Tiger«, brummte Tante Tiger plötzlich, »war das ich?«
    »Ja«, antwortete Ulla ruhig. »Das warst du.« Er blickte Tante Tiger an. Jonas fand, dass sein faltiges Gesicht jetzt nachdenklich
     aussah, obwohl er kaum eine Miene verzog.
    »Ich folgte dem Ussuri nach Norden, ging dann nach Westen, der Quelle des großen Amur entgegen, bis ich das Land der Nanai
     verlassen hatte. Das Tigerkind nahm ich mit. Ich wusste, dass ich viel Geld dafür bekommen könnte. So waren meine Gedanken,
     als |223| wir zusammen in die Einsamkeit zogen. Ich

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