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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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noch nicht glauben, dass er ein kaputtes Bein hat, und das macht ihn so unzufrieden und alt.‹
     Jonas warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk; es war kurz vor Mitternacht. Die Eltern mussten schon längst entdeckt
     haben, dass sie verschwunden waren.
    »Eines Morgens entdeckte ich Ambas Spur im Kies hinter dem Klo. Sie war zu einer Baggerschaufel gegangen. Neben Ambas Abdrücken
     waren die Spuren von zwei kleinen Menschen, die nicht auf der Baustelle arbeiteten.« Ulla zwinkerte Jonas und Lippe zu. »Ich
     verwischte die Spuren und wartete. Am Abend sah ich zwei Jungen, die mich beobachteten. Ich tat, als ob ich sie nicht bemerken
     würde, und ging. Da verschwanden sie in dem Tunnel, in dem auch Ambas Spuren verschwunden waren. Ich bewunderte den Mut der
     Jungen. Der Tiger vom Ussuri ist ein starkes und gefährliches Tier.«
    Jonas merkte, wie gut ihm das Lob tat, und auch Lippe war auf einmal vollkommen still und zappelte überhaupt nicht mehr.
    »Die Jungen kamen wieder aus dem Tunnel und ich beschloss, weiter zu warten. Ich setzte mich jeden Abend neben den Tunnel
     und sprach mit Amba in der Sprache der Nanai, wie ich es früher getan hatte. Einige Male auch in eurer Sprache. Bei Sonnenaufgang
     war ich immer der Erste auf der Baustelle. Ich verwischte Ambas Spuren, wenn sie nachts unterwegs war.«
    »Mensch, Nase!« Lippe packte Jonas’ Arm. »An die Spuren haben wir überhaupt nicht gedacht.«
    |230| »Hatten Sie keine Angst, dass Amba jemanden aus der Siedlung angreift?«, fragte Jonas.
    »Nein«, sagte Ulla. »Wenn sie Menschen hätte töten wollen, hätte sie zuerst euch getötet.«
    »Soweit kommt’s noch«, knurrte Tante Tiger. »Den beiden verdank ich mein neues Leben als monströses Katzenvieh. Ich hab mich
     noch gar nicht vorgestellt!« Sie hob den Kopf und sah Ulla an. »Kunigunde Ohm – inzwischen bekannt als«, sie warf den Kopf
     in den Nacken und stieß ein dunkles Grollen aus, »Tante Tiger!«
    »Du bist nicht Amba«, sagte Ulla und ließ die Reste des zerfetzten rosa Schals, der noch immer um Tante Tigers Hals geschlungen
     war, durch seine Hände gleiten. »Amba mochte keine Wolle. Aber du hast ihr Gesicht.«
    »Ich war mein Lebtag nicht in Sibirien«, sagte Tante Tiger. Und dann erzählte sie endlich, wer sie war und was ihr am Zaun
     des Klärwerks begegnet war. Jonas lehnte mit geschlossenen Augen an der Flanke des Tigers, hörte aber kaum zu. In seinem Kopf
     klang immer noch Ullas Stimme: ›Du hast ihr Gesicht.‹ Immer wieder dieser eine Satz. Gleichzeitig erschienen hinter Jonas’
     geschlossenen Lidern die wutverzerrten Züge der Alten im Mondschein, ihr aufgerissener zahnloser Mund. Und in diesem Mund
     sah er auf einmal Tante Tigers Reißzähne blitzen … Der Gedanke, der ihn quälte, seit er aus dem Becken geklettert war, stieg
     langsam nach oben. Wenn er diesem Gesicht eine große Brille aufsetzte …
    |231| »Tante Tiger!«, rief Jonas und riss die Augen auf. »Hatten Sie an dem Tag, als es passierte, ein Kleid an, mit Rosen drauf?«
    Die Erzählung des Tigers brach ab und er schwieg. »Ja«, sagte er endlich mit einem heiseren Ton, der fast etwas brüchig klang.
     »Mein schönes Sommerkleid mit den Rosen und darüber eine dünne weiße Strickjacke.«
    »Ich bin Ihnen hier begegnet«, sagte Jonas. »Vorhin, da hinten an dem großen Becken, das war die alte Rosa. Ich meine, das
     waren Sie, also Frau Ohm. Sie kamen zwischen den Büschen hervor in einem zerfetzten alten Kleid und haben mich mit einer Gabel
     angegriffen.«
    »Aber ich …« Tante Tiger war verwirrt.
    »Es war Ihr alter Menschenkörper«, flüsterte Jonas. »Nicht Sie. Er lebt noch und schleicht hier rum.«
    »Und in dem Körper von Frau Ohm steckt Amba, der Tiger!« Lippe war aufgesprungen, seine Augen glühten, er schmiss seine Locken
     in den Nachthimmel und war außer sich. »Warum bin ich da nicht draufgekommen? Ein Tausch, ein Tausch, ein Tausch!«
    Tante Tiger saß da, schüttelte den mächtigen Kopf und grollte vor sich hin. »Ich kann das nicht glauben, das ist doch sowieso
     alles verrückt genug … Ich alte Schachtel laufe immer noch herum. Wie sah ich denn aus?«
    »Schlecht«, sagte Jonas. »Als ob Sie sich seit Wochen nicht gekämmt und gewaschen hätten. Sie waren ungeheuer wütend und hatten
     keine Zähne und keine Brille.«
    |232| »Oh Gott, oh Gott«, jammerte Tante Tiger. »Ich hab bestimmt mein Gebiss verloren, das ist ja fürchterlich, da kann ich ja
     höchstens Brei und

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