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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Alptraum?«
    »Vielleicht ist das hier der Tanz der Vampire und Fleischhauer«, sagte Lippe. »Und der behaarte Dickwanst da ist Graf Kackula.«
    Jonas kicherte.
    »Den hab ich schon mal gesehen«, flüsterte Lippe. »Das ist die tanzende blaue Ziege.«
    Jonas schüttelte grinsend den Kopf. »Du spinnst.«
    Lippe grinste zurück. »Die Welt spinnt, Nase, das ist das Problem. Du wirst es gleich sehen. Da ist nämlich noch jemand, den
     du kennst. Tante Tiger sitzt schon auf seinem Schoß. Los, komm!« Er nahm Jonas bei der Hand und zog ihn zu dem verschlungenen
     Gebüsch mit den dunklen Blättern. ›Ein Freund ist einfach besser als alles andere‹, dachte Jonas, als er hinter Lippe in das
     verschlungene Dickicht stolperte.

[ Menü ]
    |214| Ulla und Amba
    Wie kühle feuchte Hände strichen Jonas große Blätter übers Gesicht. Andere raschelten und knisterten, wenn er sie berührte,
     als ob sie aus hauchdünnem Papier wären. Ranken und Wurzeln griffen nach seinen Füßen, Blüten verströmten betäubende Düfte.
    Jonas hielt Lippes Hand fest und ließ sich ziehen. Es war warm und feucht. Die Musik und die Schreie wurden gedämpft und schienen
     plötzlich von weit her zu kommen. Und doch gingen sie nur ein kleines Stück durch die Hecke, eigentlich waren es nur ein paar
     Schritte, dann teilte Lippe die Blätter wieder und sie standen auf einem farnbewachsenen Streifen.
    Links erhob sich die Schmalseite eines Häuschens und vor ihnen eine etwas höhere Wand. Das Eck, in dem sich die beiden Mauern
     trafen, lag im Schatten. Der flackernde Schein einer Fackel, die im Farn steckte, huschte über ein halb von einer Hutkrempe
     verborgenes Gesicht voller Falten. Zwischen den Lippen glomm eine Zigarette. Die Gestalt saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt,
     unter sich hatte sie einen hölzernen Schlitten. Der Schlittenfahrer!
    Er saß genauso da wie in der Baugrube. Nur dass jetzt ein mächtiger Tigerkopf auf seinen Beinen ruhte. Tante Tiger hatte sich
     neben dem Schlittenfahrer hingestreckt und den Kopf auf seinen Schoß gebettet. |215| Das scharfe, sägende Geräusch, das sie von sich gab, kannte Jonas: Sie schnurrte, während der Schlittenfahrer sie hinter den
     Ohren kraulte. Er hatte überhaupt keine Angst.
    »Das ist Ulla«, flüsterte Lippe neben ihm.
    Obwohl Lippe ganz leise gesprochen hatte, hob der Schlittenfahrer den Kopf und sah Jonas mit seinen schrägen Augen an. Junge
     Hunde schauen manchmal so, oder kleine Kinder, obwohl der Mann auf dem Schlitten weder jung noch kindlich wirkte. Er lächelte
     nicht einmal und der traurige Zug spielte noch immer um seinen Mund.
    »Mein Name ist Uganulla Quai«, sagte er jetzt. »Ulla rufen sie mich hier.« Seine Stimme war weich, ein gedämpfter Singsang,
     der tief aus seinem Inneren kam. Jonas starrte ihn an. Jedes Wort hatte Ulla verstanden; er musste ein ungeheuer gutes Gehör
     haben.
    »Dein Freund nennt sich Lippe. Wie nennst du dich?«
    »Ich heiße Jonas. Aber manche sagen Nase … Sie können auch Nase sagen.« Jonas wusste nicht, was mit ihm los war: Er hatte
     noch nie einem Erwachsenen angeboten, ihn Nase zu nennen!
    »Nase«, sagte Ulla ernst.
    »Ulla«, sagte Jonas ebenso ernst.
    »Tante Tiger«, sagte Lippe noch ernster.
    »Lippe«, brummte Tante Tiger – und verfiel in grollendes Gelächter.
    Jonas und Lippe kicherten ebenfalls, nur der Schlittenfahrer |216| verzog keine Miene: »Nase und Lippe sind gute Namen für große Taten. Habt ihr den Tiger gezähmt und ihm das Sprechen beigebracht?«
    Jonas und Lippe sahen Ulla an und schüttelten den Kopf.
    »Sprechen konnte ich schon, bevor die beiden Buben überhaupt geboren wurden«, sagte Tante Tiger. »Nur hatte ich früher keine
     so raue Stimme.«
    Der Schlittenfahrer sagte etwas in einer Sprache, die dunkel und jaulend klang; Jonas musste an einen Wolf denken.
    »War das Chinesisch?«, fragte Lippe.
    Jonas sah, wie die Neugier seinen Freund zum Zappeln brachte.
    »Das war die Sprache der Nanai. Das sind die Menschen, von denen ich komme«, sagte Ulla und sah dabei Tante Tiger an. »Verstehst
     du die Worte?«
    »Nie gehört, das Kauderwelsch«, brummte Tante Tiger. »Klingt trotzdem vertraut. Genauso vertraut ist dein Geruch.«
    »Schnee und Leder?«, fragte Jonas, der nichts verstand, aber spürte, dass da ein Geheimnis war.
    »Ja«, sagte Tante Tiger. »Schnee und Leder. Ein Gefühl, ein Geruch wie … wie die eigene Küche.«
    »Ich habe nur diese Sprache gesprochen mit dir«, sagte Ulla.

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