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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Tiger. »Funakis, dass ich nicht lache. Der Unhold möchte wohl einen Faun vorstellen.«
    »Was ist das?«, fragte Lippe.
    »Eine Sagengestalt aus der Antike«, brummte Tante Tiger. »Manche sagen auch Satyr. Ein Quälgeist, und wenn schon ein Gott,
     dann ein mickriger, halb Tier, halb Mensch. Er springt auf zwei Bocksbeinen übers Land, um arme Hirten und ihre Herden zu
     erschrecken mit seinem Geschrei. Es heißt auch, dass er böse Träume bescheren kann, vor allem zur Mittagsstunde, wenn seine
     Macht am größten ist.«
    »Das könnte er sein«, rief Lippe, dessen Gesicht glühte. »Er trägt immer Stiefel, um seine Hufe zu verbergen.«
    Jonas, der es sich gerade noch bequemer machen wollte, wurde hin und her geschüttelt. Die Flanke des Tigers bebte. Tante Tiger
     lachte. »Wenn dieser Trunkenbold ein Faun ist, bin ich ein …«
    »… altes Mütterchen!«, rief Lippe. Seine Augen funkelten vor Zorn.
    »Wie sind Sie denn auf der Baustelle in unserer Siedlung gelandet?«, fragte Jonas schnell, um von Lippes Bemerkung abzulenken.
     Ulla saß auf seinem Schlitten und sah in die Flamme der Fackel. Er schien nicht einmal zu atmen, so regungslos saß er da,
     bis die Glut der Zigarette in seinem Mundwinkel aufleuchtete.
    »Das ist der letzte Teil meiner Geschichte«, sagte Ulla, während Rauch aus seiner Nase quoll. »In Odessa |227| hörte ich von einem Mann vom Volk der Griechen, der einen Tiger suchte, um ihn in ein kälteres Land mitzunehmen. Kälte war
     gut. Und so traf ich Funakis. Die Sonne stand hoch am Himmel, wir waren auf einer Wiese am Rand der großen Stadt Odessa. Amba
     schlief in ihrem Käfig und auch ich war müde. Ein blauer Lastwagen fuhr auf die Wiese. Funakis sprang heraus und hüpfte um
     den Käfig herum. Er hatte überhaupt keine Angst vor Amba und sagte, dort, wo er jetzt hinführe, gäbe es nur zahme Tiere. Die
     Menschen hätten dort sogar riesige Herden winziger Tiere gezähmt, die Dreck aus schmutzigem Wasser fressen. Und er sei jetzt
     der Herr über diese Tiere. Um das Gleichgewicht zu halten, wollte er etwas Großes, Wildes. Das habe ich verstanden. Als er
     dann noch gefragt hat, ob ich mitkomme, um mich um Amba zu kümmern, hab ich Ja gesagt. Du bist das Letzte, was ich noch greifen
     kann, von meinem Land und meinem Volk.« Ulla legte eine Hand behutsam zwischen die Tigerohren. »Ich habe Funakis im Klärwerk
     geholfen und Amba war faul und hat Schmetterlinge gejagt. Aber am Wochenende war es anders, da feiert Funakis immer. Wie heute.
     Und ich sperrte den Tiger ein. Er mochte die Menschen, die dann ins Klärwerk kamen, nicht. Seine Augen, seine Ohren, seine
     Stimme, alles zeigte seine Wut, und ich wusste, dass er sie angreifen würde. Heute oder morgen oder übermorgen. Der Tiger
     ist ein wildes Tier.« Die dunkle Hand strich jetzt zart über Tante Tigers Nase. »Der Gestank hat dich so wütend gemacht. Überall
     hat es nach diesen |228| Menschen gestunken, und Amba konnte es nicht mit eigenem Geruch überdecken. Ich habe mit Funakis gesprochen, aber er fing
     an zu streiten. ›Der Gestank ist noch das Beste am Menschen‹, hat er gesagt, ›alles andere ist falsch und künstlich‹. Er wollte,
     dass der Tiger während der Feste frei ist. Er sollte die Menschen erschrecken. ›Ein großer Schreck ist ein großes Vergnügen‹,
     sagte Funakis, und ich sah, dass er Gut und Böse nicht kennt. Nur Spaß und Langeweile. Da bin ich fortgegangen.«
    »Und der Tiger?«, fragte Lippe.
    Ulla sah in die Flamme der Fackel. Bevor wieder der Qualm seiner Zigarette aufstieg, meinte Jonas die Traurigkeit in seinem
     Gesicht deutlicher zu sehen, als ob sie kurz Feuer gefangen hätte und aufloderte, bevor sie wieder verlosch. »Der Tiger gehört
     sich selbst. Er ist ein mächtiges Wesen und hat keinen Herrn. Aber Funakis hat für ihn bezahlt. Ich konnte den Tiger nicht
     mitnehmen. Manchmal ist es schwer, einen guten Weg zu finden.« Er nahm die Zigarette aus dem Mund. »Ich habe auf der großen
     Baustelle eine Arbeit gefunden. Das war gut. So war ich in der Nähe und wartete.«
    In Gedanken sah Jonas Ulla, wie er auf dem Schlitten in der Baugrube saß. Sein breites, lederfarbenes Gesicht im Schatten
     der Hutkrempe, und plötzlich wusste Jonas, was so ungewöhnlich an diesem Gesicht war, woher das innere Strahlen kam. Es war
     die Kraft, das eigene Schicksal zu ertragen. ›Ulla hält das alles aus‹, dachte Jonas, ›ohne wütend zu werden. Anders |229| als mein Vater, der will immer

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