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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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»Eure hastigen Laute kannte ich damals nicht und hätte auch nicht
     glauben können, dass jemand damit spricht.« Seine Augen waren jetzt schmal wie Knopflöcher.
    »Früher war ich anders«, sagte Tante Tiger und |217| schüttelte unwillig ihren Kopf. »Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, wie …«
    »Sie kennen Tante Tiger schon länger?« Lippe konnte sich nicht mehr zurückhalten, seine Hände zuckten durch die Luft und hielten
     sich nur ab und zu in seinen Locken fest. »Erzählen Sie! Woher kennen Sie sich? Wie kommt der Tiger hierher? Wir haben da
     nämlich ein kleines Problem zu lösen, wir …«
    »Grrrrrrrrrroooooooooohhhh…« Ein gereiztes Knurren unterbrach Lippe. Er verstummte und sah zu Jonas. Der zuckte mit den Schultern,
     Tante Tiger wollte scheinbar nicht, dass sie erzählten, was hier im Klärwerk passiert war.
    Sie schwiegen. Von der anderen Seite des Mauerwinkels hörte Jonas wildes, fast schon unheimliches Gelächter, Trommelwirbel
     und das atemlose Akkordeon.
    »Nase«, sagte Ulla nach einer Weile, »du riechst nach Belebungsbecken. Kein guter Geruch für andere Nasen.«
    »Belebungsbecken?« Jonas schämte sich etwas. »Was ist da drin?«, fragte er, war sich aber nicht sicher, ob er es wissen wollte.
    »Kleine Tiere, die Kot fressen«, sagte Ulla. »Es ist gefährlich. Du ertrinkst, weil es voll Luft ist.«
    »Ich weiß«, sagte Jonas und sah Ulla an.
    Die Falten in seinem Gesicht zogen sich etwas zusammen; er lächelte zum ersten Mal. »Wenn du diese Mauer entlanggehst, kommt
     sauberes Wasser aus einem Rohr.« Er wies mit seiner Hand die längere |218| Mauer entlang. »Und komm zurück. Ich erzähle von dem Tiger und mir.«
     
    Jonas fand einen Wasserhahn und ließ sich das Wasser über den Kopf laufen. Während das Wasser über seine Haut rann, sickerte
     in seinen Körper ein Glücksgefühl. Klares Wasser war das Beste, dachte er, das Allerallerbeste. Er öffnete den Mund und trank,
     bis er nicht mehr konnte. Dann wusch er sich noch so gut es ging die schleimigen Flocken von den Kleidern und ging zurück.
    Der Schlittenfahrer und Tante Tiger saßen noch immer genauso da, wie Jonas sie verlassen hatte. Lippe hatte sich einfach in
     den Farn gekauert.
    »Ihr könnt euch ruhig wieder anlehnen«, schnurrte Tante Tiger, als Jonas bei ihnen war. »Ich beiße nicht. Obwohl ich schon
     langsam ein kleines Nackensteak vertragen könnte.«
    Lippe sah misstrauisch zu Tante Tiger, aber Jonas zog ihn einfach mit. Der Geruch des Tigers kam Jonas inzwischen wie ein
     seltenes Gewürz vor, das erst schmeckt, wenn man ein paar Mal davon gegessen hat. Da fiel ihm etwas ein. Er öffnete seinen
     Rucksack und zog die Schokolade heraus. Durch die Kälte in der Kanalisation war sie einigermaßen hart geblieben. Lippe schob
     sich eine ganze Rippe in den Mund, Ulla nahm ein kleines Stück und legte es vorsichtig auf seine Zunge. Nur Tante Tiger verschmähte
     ihren Anteil: »Scheußlich süßes Zeug!«
    Als sich die Schokolade zwischen Jonas’ Zunge und |219| Gaumen auflöste und der Geschmack sich langsam ausbreitete, ging es ihm so gut wie lange nicht mehr. Er sank in das dichte
     Fell, spürte durch seine Kleidung den mächtigen Tigerkörper und hörte zu.
     
    »Ich komme aus einem Land, das ich nur noch im Traum betreten kann, so weit weg ist es …«, begann Ulla leise. Seine Augen
     waren fast geschlossen; das Einzige, was in seinem Gesicht glomm, war die Glut der Zigarette. »Es ist ein wildes Land voller
     Wasser, Bäume, Gräser und Tiere. Es gibt Nebel, so dick und weiß, dass du ihn wie Milch trinken möchtest. Klare Tage, da erkennst
     du den Mäuseschwanz im Schnabel des Adlers. Im Sommer gibt es mehr Mücken als Blätter an den Bäumen. Um ihnen zu entkommen,
     musst du ein Fisch sein. Mein Volk, die Nanai, sind Fische. Wir leben an den Ufern des Flusses Ussuri und aus den Häuten seiner
     Bewohner machen wir Röcke und Handschuhe. Deswegen heißen wir auch die Fischhäutigen. Im Sommer gehen wir durch die Wälder,
     im Winter auf den Flüssen. Wenn das Wasser steigt, tragen wir unser Leben auf dem Rücken zum nächsten Ufer. Unsere Flüsse
     und Wälder liegen an der Grenze einer Gegend, die bei euch Sibirien heißt.«
    Jonas wusste nichts von Sibirien. Er stellte sich riesige Eiszapfen vor, viel Wind, endlose Wüsten aus Schnee und Eis und
     vielleicht ab und zu die Spitze einer Tanne, die aus dem Schnee ragte.
    »Wie kalt ist es da?«, fragte Lippe plötzlich. »Mehr als minus

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