Tiger Unter Der Stadt
ging auf die Jagd und Amba hielt mich warm in der Nacht. Es war ein Mädchen und
es stank nicht so wie junge Tigermänner.« Jonas fragte sich kurz, ob es für Tante Tiger einen Unterschied machte, ob sie in
einem männlichen oder weiblichen Körper steckte. »Irgendwann nahm ich den Tiger mit auf die Jagd. Er lernte schnell und wurde
ein guter Jäger. Besonders in der Nacht, wenn ich nichts erlegen konnte. Das war gut, denn Amba wurde schnell groß und fraß
so viel Fleisch, dass selbst der beste Jäger es nicht jagen konnte. Wir zogen durch das riesige Land Sibirien immer weiter
nach Norden und Westen. Siedlungen und Zeltlager besuchten wir nie. Wenn Jäger oder Nomaden auf uns trafen, versteckte sich
Amba im Wald oder im Zelt. Wenn wir weiterzogen, ging ich immer hinter ihr, um ihre Spur zu verwischen. So zogen wir Jahr
um Jahr durch Taiga, Tundra und den Schnee. Amba riecht ihn immer noch an mir und ich an ihr.« Er beugte sich hinunter und
versenkte sein Gesicht im dichten Backenfell von Tante Tiger. »Schnee und das Leder der Rentierhäute, aus denen unser Zelt
war.«
Jonas’ gesamter Oberkörper vibrierte, so heftig schnurrte Tante Tiger.
Ulla hob den Kopf aus dem Fell. »Wir zogen immer weiter nach Westen, schließlich nach Süden, bis es wärmer wurde und Schnee
nur noch selten fiel. Das Jagen wurde schwieriger. Überall lebten Menschen. Amba wäre fast erschossen worden. Ich baute einen
Käfig und zog sie auf einem Wagen durch die Dörfer und |224| Städte. Gegen Geld zeigte ich den Tiger und ließ ihn vor den Augen der Menschen ein Stück Fleisch fressen. Von dem Geld kaufte
ich Fleisch für den nächsten Tag. Nur nachts konnte Amba manchmal heraus, wenn ein Wald in der Nähe war. Sie kam jedes Mal
zurück. Amba und ich waren Freunde geworden. Trotzdem schämte ich mich. Denn die Welt, durch die wir zogen, hatte einen mächtigeren
Gott als Amba, den Tiger: Geld. Ohne Geld konnte man hier nicht leben. Und Amba war das Einzige, wofür mir die Menschen Geld
geben wollten. Für ihr Fell, ihre Zähne und Knochen. Aber das wollte ich nicht. Ich bin ein Nanai. Der Tiger ist heilig. Nie
mehr werde ich ihn töten.
Doch ohne mein Volk und ohne mein Land brauchte ich Geld, um zu leben. Deshalb wollte ich den Tiger verkaufen. An einen Menschen,
der ihn pflegen und füttern würde. Ich ging nach Odessa. Eine große Stadt in einer heißen Gegend, weit im Süden. In Odessa,
sagten mir Menschen, gibt es alles und jeden, auch jemanden, der einen lebenden Tiger kauft. Ein Meer war da. Das Schwarze
Meer. Und es gab Schiffe, mit denen man in die ganze Welt fahren konnte. Dort hörte ich zum ersten Mal von Funakis.«
»Der Direktor des Klärwerks!« Lippe beugte sich über Jonas’ Schulter und starrte Ulla an. »Warum hat er nur den einen Namen?«
»Funakis ist ein seltsamer Mensch. Er trägt immer Stiefel. Auch bei großer Hitze, wie heute. Er sagt, er ist ein Gott, kein
Mensch. Und es ist zu trocken geworden, sagt er, in seinem Götterland, das heute Griechenland |225| heißt. Die Nymphen, die weiblichen Wassergeister, würden immer weniger, der Wein auch. Deshalb ist er in ein feuchtes Land
gegangen, hierher zu euch.«
»Glauben Sie das? Ich meine, dass er kein Mensch ist?« Jonas wusste, woran Lippe bei dieser Frage dachte: Wenn Funakis kein
Mensch war, hatte er vielleicht etwas mit der Verwandlung der alten Rosa zu tun.
Ulla schwieg einen Moment, bevor er antwortete. »Ich weiß es nicht. Unsere Götter sind nicht so dick und nicht so laut … Hört
ihr?«
Von jenseits des Mauerwinkels drang ein hämmerndes Heulen herüber, das immer lauter wurde. Das Akkordeon wimmerte in den höchsten
Tönen, wurde aber noch übertönt von einem langsam anschwellenden brüllenden Gelächter, und Jonas beschlich eine Ahnung: Der
Riese in der blauen Latzhose …
»Die Ziege«, flüsterte Lippe neben ihm. Sie sahen sich an und nickten.
»Funakis ist groß und stark wie ein Bär«, sagte Ulla. »Er isst für vier und trinkt für sieben und hat mehr Frauen als jeder
andere Mann.«
»Das ist ein gewöhnlicher Säufer«, fauchte jetzt Tante Tiger. »Dieser Funakis, der ist mir schon früher über den Weg gelaufen
und er war mir von Anfang an verdächtig. Er hat uns immer so wild angestarrt, mich und Herrn Teichmann. Das ist kein Gott,
das ist ein Lüstling.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Jonas. »Kennen Sie Götter?«
|226| »Ach, Götter!«, knurrte Tante
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