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Tigermilch

Tigermilch

Titel: Tigermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie de Velasco
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das ist doch das Gute am Erwachsensein. Und außerdem, drei Monate, weißt du, was das heißt?
    Jameelah schüttelt den Kopf.
    Drei Monate, das heißt, der ganze Sommer liegt noch vor uns.
     
     
    Ich habe einen Stein im Schuh. Ich mag es, wenn ich einen Stein im Schuh habe, das ist, als ob da jemand ist, jemand, der mit mir gemeinsam durch die Welt läuft. Ich kann mit ihm spielen, wenn mir langweilig ist, ihn unter meinem großen Zeh umherdrehen und wie ein Zirkuspferd durch die Manege reiten lassen, immer im Kreis herum. Keine Ahnung, wenn ich einen Stein im Schuh habe, dann bin ich einfach nicht allein.
    Jameelah und ich legen die Füße auf den Sitz gegenüber, der Stein verkrümelt sich irgendwo in Richtung Ferse, und auf dem Sitz sammeln sich kleine karoförmige Lehmstücke, die von unseren Chucksohlen abfallen. Der Lehm ist aus dem Tiergarten, wir müssen manchmal dort nachsitzen. Jameelah schlägt ihre Schuhe gegeneinander, es regnet Karokrümel, sie grinst und nimmt einen großen Schluck aus dem Tigermilchbecher.
    Lass mir auch noch was drin.
    Mann, wir haben doch noch die ganze Flasche, sagt sie und tritt gegen ihren Rucksack. Am Reißverschluss baumelt die Diddlmaus, die ich ihr geschenkt habe, da waren wir noch in der Grundschule. Die Maus ist schon ganz grau, sie war mal weiß, so lange sind Jameelah und ich schon beste Freundinnen. Vorn auf dem Rucksack steht mit Edding Lieb dich, mein Engel, deine Anna-Lena. Anna-Lena hat echt keine Ahnung, einen Scheiß liebt sie Jameelah, und einen Scheiß ist Jameelah ein Engel.
    Ein alter Sack, typisch Rentner, geht an uns vorbei.
    Füße runter, sagt er.
    Wir müssen jetzt eh raus, Nazi, sagt Jameelah.
    Der Depp kriegt den Mund nicht mehr zu. Jameelah ext den Tigermilchbecher und lässt ihn auf den Boden fallen. An der Bahnhalte setzen wir uns auf die Bank und füllen meine leere Fantaflasche mit Tigermilch auf.
    Verrückt, sagt Jameelah und gießt Mariacron in die Flasche, es gibt echt so ein paar Wörter in Deutschland, die sind verzaubert. Wenn du die sagst, dann bleibt die Welt stehen. Nazi. Die Welt glotzt dich an und bleibt stehen.
    Na ja, eher verflucht. Der Alte war beleidigt. Weißt doch, wie das ist, wenn man Nazi sagt.
    Ja gut, stimmt, Nazi ist ein blödes Beispiel, aber trotzdem, überleg doch mal, es gibt Wörter, die sagst du, und alle glotzen dich an, ob Beleidigung oder nicht. Stell dir vor, ich hätte einfach so laut Nazi gesagt, ohne den alten Sack. Alle hätten geglotzt. Oder Jude. Kannst du nicht laut sagen. Ist doch ein ganz normales Wort.
    Das ist doch auch ein total bescheuertes Beispiel.
    Jameelah verzieht nachdenklich den Mund.
    Stimmt, stimmt. Aber du weißt, was ich meine, oder, mir fällt jetzt nur nichts ein.
    Die letzten Tropfen Schulmilch gluckern zum Mariacron.
    Scheide, sage ich.
    Was?
    Scheide ist so ein Wort, sage ich.
    Jameelah starrt mich an.
    Scheide, Scheide, ruft sie, genau, das meine ich! Das ist doch wirklich nur ein ganz normales Wort.
    Jetzt schrei doch nicht so, sage ich.
    Was, du jetzt auch schon? Du hast es doch als Erstes gesagt, schreit sie, siehst du, das meine ich, man kann es nicht sagen, man kann es nicht sagen!
    Jameelah springt auf, die Diddlmaus an ihrem Rucksack baumelt tollwütig herum.
    Neues Spiel, sagt Jameelah, dabei klirren ihre tausend Armreifen dicht vor meinem Gesicht, wir suchen nach den normalsten Wörtern der Welt, die man aber nicht sagen darf.
    Ich schlage ein und sage, aber dann musst du das nächste Wort finden.
    Jameelah überlegt.
    Nazi, Jude, Scheide, ist gar nicht so einfach, da anzuschließen.
    Jameelah kramt Tobak aus ihrem Rocksack und dreht sich eine. Den Tobak versucht sie so glatt und ebenmäßig wie möglich auf dem Blättchen zu verteilen, schon fast Maßarbeit, was sie da macht. Eine Weile sagen wir beide nichts, vielleicht, weil wir wissen, was jetzt kommt, und weil wir uns immer noch umentscheiden könnten. Ich will mich aber nicht umentscheiden, und überhaupt war es doch Jameelahs Idee, von Anfang an.
    Wir machens aber schon noch mal, oder, frage ich.
    Jameelah reagiert nicht, sitzt da, dreht seelenruhig ihre Kippe.
    Komm.
    Jameelahs Zunge huscht über die Klebefläche, sie steckt sich die fertige Kippe in den Mund und schaut mich an.
    Meinst du, sagt sie, und holt ihr Zippo raus.
    Meine ich. War ganz schön witzig, das letzte Mal.
    War ganz schön kross, würde ich sagen.
    Ja, war ganz schön kross. Aber auch irgendwie witzig, oder.
    Ihre dunklen Augen bohren sich in mich

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