Tigermilch
noch klein war, ich immer gedacht habe, der Tod ist was Lautes, wie im Kino, spritzendes Blut, Geschrei, Fleischfetzen, aber das stimmt alles gar nicht, der Tod ist still, er macht überhaupt keinen Lärm, er riecht nach Rosenblättern, er nimmt dich in den Arm und stöhnt leise zum Abschied.
Jameelah ist irgendwann eingeschlafen, aber ich nicht, denn nachdem ich zuerst an Jasna denken musste, musste ich plötzlich an Tarik denken. Tausend Sachen sind mir eingefallen, alle auf einmal, viel mehr als bei Jasna, nicht nur Lambada und wie er immer MC Hammer nachgemacht hat, nein, wie er manchmal mit mir und Amir gespielt hat, wie er mit uns auf dem Spielplatz Flugzeugabsturz in den Karpaten gespielt hat oder Im Gefängnis vergessen, wie er uns gezeigt hat, dass wir die Feuchtigkeit von den Gefängniswänden runterlecken sollen, um nicht zu verdursten, oder dass wir das Fleisch toter Passagiere essen können, um zu überleben, dass das in so einer Situation in Ordnung wäre, und dann ist mir eingefallen, wie er mir einmal zum Geburtstag einen Gürtel geschenkt hat, einen pinken Ledergürtel mit Nieten. Die Nieten hat er selber draufgemacht, hat er gesagt, zehn Nieten, jede mit einem dicken glänzenden Stein, für jedes Jahr eine, Happy Birthday, Nini, hat er gesagt, und als mir das alles wieder eingefallen ist, da habe ich gemerkt, es ist gar nicht nur Jasna, die tot ist, sondern auch Tarik, und dass Tarik, weil er Jasna umgebracht hat, eigentlich noch viel toter ist als Jasna, und da bin ich noch mal ins Bad, dabei musste ich wieder nicht pinkeln, nur weinen.
Erst als es draußen hell war, bin ich eingeschlafen, ich bin aber zwischendurch immer wieder wach geworden, einmal weil es so komisch gerochen hat, nach Blut und Milch. Das bildest du dir wieder ein, habe ich gedacht, wie mit den Herzchen auf dem Nachthemd, aber dann habe ich gesehen, dass der Tigermilchbecher auf dem Nachttisch gestanden hat und dass der Geruch nach Blut und süßer Milch daher kam, vom metallenen Schmuck, da habe ich den Becher einfach unters Bett gestellt, gleich neben Amirs Karton, und als ich Amirs Karton gesehen habe, da habe ich kurz gedacht, ich mache ihn auf.
Um eins werde ich wach. Ich gehe zum Kaufland und kaufe Cornflakes. Zu Hause essen Jameelah und ich die Cornflakes im Bett. Jameelah starrt die ganze Zeit vor sich hin, sie schaufelt wie blöde die Cornflakes in sich rein und erinnert mich dabei an Mama, dieser neblige Blick, genauso wie Mama, ich muss mir die ganze Zeit die Augen reiben, aber ich traue mich nicht zu fragen, woran sie denkt, und außerdem, denke ich, irgendwann wird sie schon was sagen von wegen Schmuck und so, aber sie sagt nichts, da ist nur das malmende Geräusch von den Cornflakes.
Was machen wir denn jetzt, frage ich irgendwann.
Abwarten, sagt Jameelah, glaub mir, ich weiß, wie man sich bei so was verhalten muss.
Ich verstehe das nicht so wirklich, aber Jameelah trinkt in aller Ruhe die Milch in ihrer Cornflakesschüssel aus, und dann sagt sie, man darf nichts überstürzen, man darf keinen Schritt machen, ohne genau zu überlegen, verstehst du, sagt sie, normal denken geht nicht mehr, eins nach dem anderen, und warten, was passiert, nee. Jetzt muss man im Kopf Galopp reiten, immer einen Schritt voraus sein.
Ich nicke und esse weiter meine Cornflakes.
Die Zeit läuft einfach so vorbei, wir liegen auf dem Bett, keiner sagt ein Wort, aber irgendwann beuge ich mich unters Bett und stelle den Tigermilchbecher auf den Nachttisch.
Was ist damit, sage ich, gehen wir damit zur Polizei?
Nein. Wir müssen den wegwerfen, wir müssen das alles wegwerfen.
Wegwerfen, warum, frage ich, wieso haben wir ihn denn überhaupt mitgenommen?
Weiß nicht.
Wie, weiß nicht, du hattest doch einen Plan mit dem Schmuck.
Nein.
Doch.
Nein, hatte ich nicht. War so eine Eingebung.
Eingebung, schreie ich und springe vom Bett auf, du hattest keine Eingebung, du hattest einen an der Falafel, schreie ich, warum haben wir den verdammten Schmuck mitgenommen, sag sofort, warum!
Ich weiß es nicht, sagt Jameelah leise und vergräbt das Gesicht in den Händen, und außerdem, sagt sie, du hast doch mitgemacht.
Nein, ich habs gemacht, weil dus gemacht hast, weil ich dachte, du denkst dir schon was dabei!
Was hätte ich mir denn bitte denken sollen?
Keine Ahnung, ist vielleicht was aus eurem Glauben oder was, oder wir gehen damit zur Polizei, weil man damit irgendwas beweisen kann.
Was für ein Scheißglauben denn, schreit
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