Tigermilch
Jameelah, seit wann habe ich bitte einen Glauben, und wieso muss ich immer alles wissen und immer den Plan haben?
In meinem Kopf rattert alles.
Jameelah steht auf, trinkt die Tigermilch in einem Zug aus und kippt den Schmuck in die Nettotüte zu den Flaschen.
Was machen wir jetzt damit, frage ich.
Holen wir später, sagt Jameelah, ich muss nach Hause.
Ich stelle die Nettotüte auf den Kleiderschrank. Wir ziehen uns ganz langsam an, ich binde mir die Schnürsenkel von meinen Chucks sogar mit Doppelknoten zu. Mama und Jessi gucken Fernsehen und beachten uns zum Glück gar nicht groß, dann gehen wir los, aber auf dem Spielplatz ist schon alles abgesperrt. Um Amirs Linde herum haben sie ein breites Plastikband gezogen, jede Menge Männer in schwarzen Jacken stehen herum und trinken Kaffee, und einer von denen pickt mit so einer Gabel wie aus dem Tiergarten, die ganzen Rosenblätter vom Boden auf.
Toll, jetzt müssen wir einen Riesenumweg gehen, so eine Scheiße, schimpft Jameelah, aber ich kann nur hoch zum Holzhäuschen von der Rutsche starren und darüber in den verwolkten Himmel, und da sehe ich ganz genau, so wie bei Rainers komischem Wecker, wo die Ziffern über dem Bett im Schlafzimmer an der Decke leuchten, genau so sehe ich unsere Uhr in den Wolken leuchten, unsere Uhr, die gestern noch auf 14 nach gestanden hat, das heißt noch fast 50 Minuten Leben, die steht plötzlich auf 20 nach, das heißt nur noch 40 Minuten Leben, dabei kann das doch gar nicht sein, aber vielleicht doch, was weiß ich denn schon, denke ich.
Der Bürgersteig vor dem Haus ist voll mit Journalisten. Sie haben ihre Kameras mitgebracht, sie kleben mit ihren viel zu langen schlaksigen Beinen an der Hausfassade, sie trinken Kaffee, den miesen von der Stanitzek, sie reden, rauchen, lachen, wüsste echt gern, was es hier zu lachen gibt.
Sollen wir da jetzt echt hingehen?
Na klar, sagt Jameelah, ich weiß, wie man sich bei so was verhalten muss. Wir machen es wie die Schauspieler in Hollywood, wir nehmen unsere Rucksäcke und drücken sie uns vor die Brust, als wären es Louis-Vuitton-Taschen, dann drängen wir uns ganz cool und pomade an denen vorbei, und wenn sie aufdringlich werden, sagen wir, kein Kommentar, so angelinamäßig, weißt du. Sonnenbrillen wären gut, aber egal, geht auch ohne, o. k.?
O. k., sage ich, alles klar.
Dass wir keine Sonnebrillen mithaben, ist nicht so schlimm, eigentlich interessieren sie sich gar nicht für uns, glotzen nur blöde, als wir uns an ihnen vorbei in den Hausflur drängeln, der ist von den Kameras so erleuchtet, als würde hier ein Film gedreht werden, und tatsächlich steht die Stanitzek mit ihrem verfilzten Köter auf dem Arm in der offenen Wohnungstür und erzählt dem ekelhaften Typen von der Bild ihre ganze Lebensgeschichte, von ihrem toten Mann und dem Laden und ihren ganzen Scheißkrankheiten und weiß ich was noch alles.
Ich könnte Ihnen Sachen erzählen, sagt die Stanitzek, aber mache ich nicht, da werde ich nur wieder bedroht. Wenn ich laut sagen würde, was ich denke, sagt sie, könnte ich meinen Laden sofort zumachen.
Wir wollen gerade die Treppe hoch, da kommt die eine Journalistin auf mich zu, die, die auch schon hier war, als Jasna vom Balkon gesprungen ist.
Nur ein Bein gebrochen, sagt sie und schaut mich böse an, sagst du das jetzt immer noch, ja?
Kein Kommentar, sage ich und drücke meinen Rucksack fest gegen die Brust.
Jameelah will mich die Treppen hochzerren, da fährt ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene die Straße runter. Der Typ von der Bild lässt die Stanitzek einfach vor ihrer Wohnungstür stehen.
Wir gehen zurück auf die Straße, mir wird voll heiß, als sich die Autotür öffnet und Tarik aussteigt. Er trägt Selma auf dem Arm. Tarik hilft gemeinsam mit einem Polizisten seiner Mutter aus dem Wagen. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem großen weißen Taschentuch, ein Lappen, so klitschnass geweint, dass er ganz durchsichtig ist und man ihr Gesicht wie einen Geist hindurchschimmern sieht. Ein weiterer Polizist steigt aus, er schlägt die Wagentür zu und reicht Selma ein Überraschungsei, er knuddelt sie am Bauch, aber Selma schmeißt das Überraschungsei auf den Boden.
Majka, schreit sie und fängt an zu weinen.
Da ist doch deine Mama, sagt der Polizist und zeigt auf Tariks Mutter, aber Selma schreit nur noch lauter und windet sich in Tariks Armen.
Majka, schreit sie, Majka.
Tarik legt einen Arm um seine Mutter. Ein paar Journalisten
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