Tigermilch
stellen Fragen. Tarik antwortet ganz brav, als wäre nichts gewesen. Dass er einfach so auf der Straße steht, mit Selma auf dem Arm, das geht nicht. Gottes Welt ist verfault, sie muss es sein, denn wenn es so was wie Gott oder Gerechtigkeit gäbe, dann würde Tarik doch nicht einfach so mit Selma auf dem Arm hier stehen können, dann würde weiß ich was, dann würde es genau jetzt in diesem Moment anfangen, Feuer zu regnen oder zumindest Frösche, oder ein großer Blitz würde vom Himmel auf Tarik runterfahren. Es regnet aber gar nichts, nicht der kleinste Funke, nicht der mickrigste Frosch kommt geregnet, und das Einzige, was blitzt, sind die Kameras.
Haben Sie jemanden festgenommen, fragt der Typ von der Bild den Polizisten.
Kein Kommentar, sagt der Polizist.
Die Kameras kleben an Tarik und seiner Mutter. Vielleicht ist das hier alles nur ein Film, denke ich, es ist wie bei einer echten Kino-Premiere im Fernsehen, nur sind nicht wir die berühmten Schauspieler, sondern Tarik, fehlt ja nur noch der rote Teppich und dass Tarik anfängt, Autogramme zu geben. Und noch was fehlt, Amir.
Wo ist Amir, flüstere ich.
Jameelah zuckt die Schultern, da biegt Dragan plötzlich um die Ecke. Als er Tarik sieht, bleibt er wie angewurzelt stehen, doch dann rennt er umso schneller los, direkt auf Tarik zu.
O nein, denke ich, dabei merke ich, dass ich ein bisschen Angst um Tarik bekomme.
Ich bring dich um, du Krüppel, schreit Dragan, los, fang schon mal an, zu deinem Allah zu beten!
Die beiden Polizisten versuchen Dragan auf den Boden zu bekommen, aber es dauert eine Weile, bis sie ihn überwältigen können, obwohl sie zu zweit sind. Ich kann sehen, dass er Tränen in den Augen hat, einmal Wut und einmal Trauer. Tariks Mutter schreit, Selma weint noch lauter, und die Journalisten stehen da und halten ihre Kameras drauf. Plötzlich höre ich von oben jemanden rufen.
Kommt sofort hoch, sofort!
Es ist Noura, die oben am Fenster steht und böse zu uns herunterstarrt.
Was habt ihr da unten zu suchen gehabt, sagt Noura, nichts, habt ihr gehört, nichts!
Das war Zufall, sagt Jameelah, können wir doch nichts für, und überhaupt, was ist denn passiert?
Schuhe aus, es gibt Essen.
Im Wohnzimmer ist der Tisch gedeckt. Noura drückt mich sanft auf einen Stuhl und holt einen dritten Teller aus der Küche.
Ich habe keinen Hunger, sagt Jameelah.
Es ist Mittag, es wird jetzt gegessen.
Ich habe aber keinen Hunger, sagt Jameelah wieder und verschränkt die Arme vor der Brust.
Dann isst du nichts, es ist mir egal, aber da unten sollt ihr nicht sein, verstanden, sagt Noura.
Was ist passiert, fragt Jameelah wieder.
Das arme Mädchen, es ist tot, sagt Noura, sie haben es ermordet, die kleine Jasna.
Echt, sagt Jameelah und macht ein ungläubiges Gesicht, warum, ich meine wer, sagt sie.
Warum, dafür gibt es keine Gründe, sagt Noura und reicht mir die Schüssel mit dem Petersiliensalat, das ist das Böse in der Welt.
Ich habe auch keinen Hunger, aber damit das nicht auffällt, nehme ich mir trotzdem. Vielleicht ist es das, was Jameelah meint mit Im-Kopf-Galoppieren, erst mal fragen, was die anderen wissen, immer einen Schritt voraus sein. Aber ich glaube, ich kann einfach keinen Kopfgalopp, das ist so wie mit Mathe und Bio, ich kann es nicht, mir wird nur schwindelig davon, deswegen versuche ich, auf ein Stück Tomate im Petersiliensalat zu schauen, so macht man das, wenn man das Gleichgewicht nicht verlieren will, die Augen auf einen bestimmten Punkt richten.
Weiß man denn, wer es gewesen ist, fragt Jameelah.
Sie haben die ganze Familie mitgenommen, sagt Noura, auf die Polizei.
Und Amir, frage ich.
Ja, auch, sagt Noura.
Amir ist aber kein böser Mensch, sage ich.
Ich weiß, aber manchmal, nicht immer, wie sagt man, manchmal fällt der Apfel nicht weit vom Baum. Diese Menschen kennen es nicht anders. Sie kennen nur Krieg und Unglück, sie sind es so gewohnt. Aber wir sind doch nicht nach Deutschland gekommen, um das zu sehen, sagt sie und legt ihre Hand auf Jameelahs Schulter.
Mama, hör auf, sagt Jameelah.
Nein, es ist wahr, und es macht mir Angst.
Mama, es nervt, sagt Jameelah.
Noura schaut sie wütend an.
Es nervt, dass ein Mädchen getötet wird, in unserem Haus?
Hör auf, schreit Jameelah, springt auf und rennt in die Küche.
Jameelah, ruft Noura, dann sagt sie was auf Arabisch und geht ihr hinterher.
Ich bleibe allein am Mittagstisch zurück, wie früher, wenn Mama und Papa gestritten haben. Ich
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