Tigermilch
schaue auf die Vitrine, die an der gegenüberliegenden Wand steht, da drin die schwarz-weißen Fotos von Jameelahs Vater und ihrem Bruder. Ich schaue auf den leuchtend grünen Petersiliensalat vor mir, zu den Fotos in der Vitrine, auf den Salat und wieder zu den Fotos. Dieser blöde Lukas und sein blödes grünes Leben, denke ich, hätten wir bloß niemals auf dem Spielplatz Rosenblätter gestreut.
Sollen sie doch dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind und sich alle gegenseitig umbringen, höre ich Noura in der Küche sagen und dann wieder was auf Arabisch, das verstehe ich nicht. Irgendwann werden die Stimmen aus der Küche immer leiser und leiser, bis sie ganz verstummen und nur noch leises Weinen zu hören ist, das verstehe ich, weil weinen klingt in jeder Sprache gleich.
Ich mag nicht mehr, ich lege die Gabel beiseite und schiebe den Teller mit dem Salat von mir weg. Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl hin und her, da schleicht was großes Trauriges unterm Tisch herum, es streicht um meine Beine. Ich würde gern aufstehen und gehen, ich will nach Hause, aber zu Hause, ist das bei Rainer und Jessi, bei Mama und ihrem Sofa? Ich weiß nicht, keine Ahnung, wo ich hinwill, ich will auf Amirs Linde und so weit hochklettern, dass mich die grünen Blätter ganz bedecken und mich keiner finden kann, ich will das dünne Ende vom Wollfaden in den Ästen suchen und mich wie ein Äffchen daran festhalten, so lange, bis jemand die Welt unter mir wieder zusammengeklebt hat.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Ich halte mich an der Fensterbank fest, weil alles leicht zu zittern anfängt, wie bei einem Erdbeben, und da richte ich meine Augen schnell auf die Straße. Immer noch steht Polizei vor der Haustür, ich sehe die Stanitzek im Morgenmantel mit ihrem Hund auf dem Arm, und Tarik, wie er mit Selma ein bisschen abseits steht, wie sie sich an ihn schmiegt und wie er sie auf die Stirn küsst.
Schluss mit Kopfgalopp, ich laufe in den Flur, ich bücke mich, um mir die Chucks zuzubinden, da kommt Jameelah aus der Küche.
Was machst du, sagt sie.
Ich gehe jetzt runter und sage denen alles.
Das kannst du nicht machen, flüstert Jameelah.
Doch, sage ich schnell, aber als ich zur Tür will, packt sie mich am Arm, genauso fest wie gestern Nacht.
Lass mich los, sage ich.
Ich ziehe an meinem Arm, aber je mehr ich ziehe, desto fester drückt Jameelah zu, lass los, will ich schreien, lass mich los, aber Jameelahs Augen füllen sich mit Tränen, sie quillen über den Rand und verfangen sich in den Mundwinkeln.
Warum weinst du denn so, will ich sagen, verdammt noch mal, warum weinst du nur so, aber da höre ich plötzlich ein Geräusch, das wird immer lauter, rattert, schnauft, wie ein Zug, da kommt ein Zug, denke ich, dabei gibt es hier gar keine Bahngleise in der Nähe, und es dauert eine Weile, bis ich merke, das ist gar kein Zug, sondern nur der Teekessel in der Küche, und dann kommt Noura in den Flur und sagt, jetzt trinken wir alle zusammen eine schöne heiße Tasse Tee, aber Jameelah sagt nur, ich habe keinen Durst, und zieht mich in ihr Zimmer.
Da hast du deinen Tarik, deinen Teddy Dragon, der auf uns alle aufpasst, sagt Jameelah, kannst du mal sehen, was der mit einem macht, wenn man nicht so will wie er, sagt sie.
Wir müssen zur Polizei gehen, sage ich.
Klar, damit ich in die ganze Nummer mit reingezogen werde, sagt Jameelah und schaut mich ungläubig an, bestimmt nicht. Ich hab dir doch gesagt, dass ich weiß, wie man sich bei so was verhält.
Ja wie denn?
Jedenfalls gehen wir nicht zur Polizei.
Aber wir müssen denen doch sagen, wer es war.
Müssen wir gar nicht. Das finden die schon von allein raus. Wieso sollen wir uns da einmischen?
Weil Tarik einfach so rumläuft, mit Selma auf dem Arm.
Jetzt gib denen doch mal ein bisschen Zeit zu ermitteln.
Sollen wir gar nichts machen oder was?
Doch, aber wir lassen die Polizei erst mal machen, muss doch schließlich Beweise und so einen Kram geben, sagt Jameelah und lässt sich aufs Bett fallen.
Und was, wenn nicht?
Wir warten, dann können wir immer noch zur Polizei. Erst mal müssen wir diesen Schmuck loswerden.
Warum haben wir den Schmuck nur mitgenommen, sage ich.
Irgendwas mussten wir doch machen, sagt Jameelah wieder, besser was Falsches tun als gar nichts.
Warum haben wir den Schmuck nur mitgenommen, sage ich, warum haben wir nur den verdammten Schmuck mitgenommen, aber ich bekomme keine Antwort.
Hinter Jameelah an der Wand hängt der
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