Tijuana Blues
Señor Morgado.«
»Was ist?«
Der Portier sah beunruhigt aus. »Ich wollte Ihnen sagen, vor ein paar Stunden war eine junge Frau da und hat nach Ihnen gefragt. Sie wollte mir ihren Namen nicht sagen. Sie sagte, sie sei Ihre Frau.«
»Wie sah sie aus?«
»Groß, dunkelblond, grüne Augen.«
Morgados Müdigkeit war wie weggeblasen. »Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein, nein! Sie hat einen Extraschlüssel zu Ihrem Zimmer verlangt, und sie war so hartnäckig, dass sie jetzt in Ihrem Zimmer sitzt. Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht, aber …«
»Kein Problem.«
»Sind Sie sicher?«
»Haben Sie meinen Schlüssel?«
»Hier.«
»Dann gute Nacht.«
»Eher guten Morgen.«
»Ja, das meinte ich.«
Morgado eilte zu seinem Zimmer, blieb vor der Tür stehen und atmete tief durch, um wieder ruhiger zu werden. Er öffnete geräuschlos und machte kein Licht an.
Da lag eine schlafende Alicia Beltrán auf dem Bauch im Bett, seinem Bett. Völlig nackt. Er glaubte zu träumen. Aber als er sich von der Überraschung erholt hatte, zog er sich aus und legte sich neben sie. In weniger als einer Minute war er eingeschlafen.
Stunden später wachte er auf, weil Lippen ganz langsam über seinen Penis fuhren.
»Guten Morgen«, sagte Alicia, als sie einen Moment Pause machte. »Ich begrüße gerade einen alten Freund.«
»Er freut sich, dass du wieder da bist. Genau wie ich.«
»Er sieht schlapp aus.«
»Er hat schreckliche Tage hinter sich.«
»Hast du ihn so hart rangenommen?«
»Nein. Keineswegs. Er war in Quarantäne.«
»Das haben wir gleich.«
Alicia nahm ihre Tätigkeit wieder auf. Morgado stellte fest, dass ihre Wiederauferstehungsbemühungen sich gut anließen. »Warum hast du deine Meinung geändert?«, fragte er.
Alicia strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Aus Wehmut. Aus Mitleid. Keine Ahnung.«
»Los, sag es mir«, bat Morgado.
»Um mir selbst zu widersprechen. Was hältst du davon?«
»Und ich zähle überhaupt nicht?«
»Du bist das Wichtigste.«
»Das freut mich.«
»Mich auch. Warum bestellst du nicht das Frühstück?«
Morgado nahm das Telefon. »Möchtest du Kaffee?«
Alicia nickte. »Ohne Milch. Die steuerst du bei.«
19
Der alte Friedhof von Mexicali mit seinen ärmlichen Gräbern und den verwitterten Gipsengeln. Ein einziger Wächter und nur eine Eingangstür.
Morgado ging mit unsicheren Schritten die staubigen Wege entlang. Er wollte nicht an das Grab seiner Mutter kommen. Er wollte die Vergangenheit nicht aufwühlen. Aber es blieb ihm keine andere Wahl: Das war eine Schuld, die er niemals würde begleichen können, ein riesiges Vermächtnis.
Alicia holte ihn ein und gab ihm einen kleinen Strauß weißer Rosen. »Für deine Mutter. Von mir.«
Morgado nahm die Blumen und fühlte sich sicherer. Alicia begleitete ihn bis zum Grab und half ihm, den Staub zu entfernen. In diesem Moment verlor die Wirklichkeit ihre Konturen. Morgado wurde von schmerzlichen Bildern und Totenstimmen heimgesucht.
Es klingelte an der Haustür, und er, ein elfjähriger Junge, eilte zur Tür. Ein großer, dürrer, in Strömen schwitzender Junge, der wild herumzappelte, fragte, ob sein Vater da sei.
»Er kommt bald.«
»Und deine Mutter?«
»Ich hole sie.«
Das war nicht nötig. Seine Mutter stand schon neben ihm und schob ihn ins Haus. »Was willst du, Junge?«
»Sie sind hinter mir her, Señora, sie werden mich umbringen. Sie warten am Ende der Gasse auf mich. Lassen Sie mich eine Weile in Ihrem Haus bleiben. Dann verschwinde ich. Sobald es dunkel wird.«
Seine Mutter musterte ihn misstrauisch. »Du bist ein Junkie, nicht wahr?«
Der Junge nickte und zappelte weiter. »Ich schulde ihnen Geld. Deswegen wollen sie mich kaltmachen. Bitte lassen Sie mich eine Weile hier bleiben. Ich komme aus der Siedlung.«
Als meine Mutter das hörte, wurde sie wütend. Sie hatte mehr als zwanzig Jahre in dieser Siedlung gelebt, seit sie als junges Mädchen aus Jalisco gekommen war. Sie hielt sie für ruhig und sicher.
Ohne nachzudenken, packte sie den Jungen am Hemdkragen und rief dem kleinen Morgado zu, es werde nicht lange dauern, sie sei gleich zurück, er solle auf keinen Fall das Haus verlassen.
Der Junge versuchte sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht.
»Sie warten am Ende der Gasse, nicht? Dann werden wir jetzt dorthin gehen. Wir wollen hier weder Herumtreiber noch Kriminelle.«
Der Junge wehrte sich vergeblich. Der kleine Morgado sah vom Wohnzimmerfenster aus, wie sie sich
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