Tim Burton: Der melancholische Magier. Mit einem Vorwort von Johnny Depp (German Edition)
konnte man sich über das Studiogelände führen lassen. Ich war noch sehr jung, als ich mir die Straßen angeschaut habe, wo Dracula und Frankenstein gefilmt wurden. Das hat mich stark beeindruckt und vermutlich den romantischen Aspekt des Ganzen verstärkt. Die Gelegenheit, Regie zu führen, bot sich mir aber erst nach ein paar Jahren bei Disney. Und vorher habe ich auch keinen Gedanken daran verschwendet. Vielleicht aus reinem Selbstschutz, weil ich mich nicht irgendwelchen überspannten Erwartungen aussetzen wollte. Ich lebe lieber im Augenblick.
Wenngleich Burton sich in der Schule nicht besonders hervortat, wurde sein künstlerisches Potenzial schon bald offensichtlich. In der neunten Klasse gewann er den mit zehn Dollar dotierten ersten Preis in einer öffentlichen Ausschreibung der städtischen Müllabfuhr. Er entwarf ein Poster zum Thema saubere Straßen, das zwei Monate lang die Müllautos in Burbank zierte. An Weihnachten und Halloween verdiente er sich ein wenig Taschengeld damit, die Fenster seiner Nachbarn mit Schneelandschaften, Kürbissen, Spinnen und Skeletten zu verschönern.
Ich bin ein ziemlich zerstreuter Mensch und manchmal auch recht hippelig und unaufmerksam. Aber es gibt Dinge, bei denen ich mich konzentrieren kann und die mir guttun. Das Zeichnen zum Beispiel hat für mich etwas sehr Beruhigendes. Das war schon als Kind so. Ich habe immer gern gezeichnet. In der Schule habe ich nichts anderes gemacht. Es war großartig. Im Kindergartenalter unterscheiden sich die Zeichnungen der Kinder noch kaum voneinander, alle sind gleich gut. Aber wenn man älter wird, geschieht etwas mit einem. Die Gesellschaft treibt einem bestimmte Dinge aus. An der Kunstschule mussteich zum Beispiel auch einen Kurs in Aktzeichnen belegen. Das war ein einziger Kampf. Anstatt einen zu ermutigen, eigene Ausdrucksformen zu finden und so zu zeichnen, wie man es als Kind getan hat, versuchen sie, einem alle möglichen Regeln einzubläuen. Dann heißt es: »Nein, nein, so kannst du das nicht zeichnen. Du musst es so machen.« Ich erinnere mich, dass ich irgendwann furchtbar frustriert war – weil ich gern zeichnete, es aber eigentlich nicht richtig konnte. Doch dann kam mir eines Tages die Erleuchtung. Ich saß über einer Zeichnung und dachte: »Verdammt, ist mir doch egal, ob ich zeichnen kann oder nicht. Es macht mir einfach Spaß!« Und ich schwöre bei Gott, plötzlich besaß ich eine Freiheit, die ich vorher nicht hatte. Von da an war es mir gleich, ob ich den menschlichen Körper realitätsgetreu darstellte oder nicht. Und ob es anderen gefiel. Ich hatte einfach dieses Gefühl von Freiheit, als hätte ich irgendwelche Drogen genommen. Und bis heute ringe ich darum, mir dieses Gefühl zu erhalten – besonders immer dann, wenn jemand sagt: »Das kannst du so nicht machen. Das ergibt keinen Sinn.« Jeden Tag aufs Neue muss man darum kämpfen, sich ein gewisses Maß an Freiheit zu bewahren.
1976, mit achtzehn Jahren, erhielt Burton ein Stipendium für das California Institute of the Arts (CalArts), ein College in Valencia, Kalifornien, das von Walt Disney gegründet worden war. Im Vorjahr war dort vom Disney Studio ein Studienfach eingerichtet worden, mit dem potenzielle Nachwuchstrickzeichner herangezogen werden sollten.
An der Highschool hatte ich einen Lehrer, der mich sehr unterstützt hat, und ich erhielt dann ein Stipendium für das CalArts. Wir drehten dort Super-8-Filme – einen mexikanischen Monsterfilm oder einen Surferfilm – nur so zum Spaß. Aber meine eigentliche Berufung schien der Trickfilm zu sein. Disney arbeitete damals immer noch mit denselben Zeichnern, die Schneewittchen und die sieben Zwerge gemacht hatten, und hatte es lange Zeit versäumt, Nachwuchs heranzuziehen. Als ich mich in das von Disney finanzierte Studienfach einschrieb, existierte es gerade einmal zwei Jahre. Sie versuchten, den ganzen eifrigen jungen Rekruten beizubringen, wie man Trickfilme zeichnet. Es war wirklich wie in der Army, oder jedenfalls so, wie ichmir die Army vorstelle. Man wurde von Disney-Angestellten unterrichtet und bekam die Konzernphilosophie eingetrichtert. Die Atmosphäre war also ein wenig merkwürdig, aber dafür lernte ich zum ersten Mal Leute kennen, die ähnlich tickten wie ich. Alles Außenseiter, die verspottet wurden, weil sie Star-Trek-Fans waren oder noch seltsamere Interessen hatten.
Außerdem kam man an das Material der Disney-Filme heran. Wenn man zum Beispiel erfahren wollte, wie
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