Timbuktu
konnte; das Bild blieb ihm so deutlich, so kristallscharf im Gedächtnis haften, daß es ihm noch tagelang vor Augen stand: eine Erscheinung aus Schwerelosigkeit und Schnelligkeit, die Grazie des Ungezähmten. Und eines Nachts im September war da der Hirsch, der aus dem Wald trat, zwanzig, dreißig Sekunden auf dem Gras herumtrippelte und dann, aufgeschreckt durch das Geräusch eines weit entfernten Autos, wieder in der Dunkelheit verschwand, wobei er tiefe Spuren im Rasen hinterließ, die noch eine ganze Woche zu sehen waren.
Mr. Bones begann den Rasen sehr zu lieben - das Gefühl der federnden Grasbüschel unter den Pfoten, die Grashüpfer, die an den grünen Stengeln hin und her sprangen, der erdige Geruch, der aus dem Boden stieg, wohin er sich auch wandte -, und im Lauf der Zeit wurde ihm klar, wenn er und Dick etwas gemeinsam hatten, dann war es diese tiefe, irrationale Liebe zu dem Rasen. Er war das Band, das sie verknüpfte, zugleich aber auch die Quelle ihrer größten philosophischen Meinungsverschiedenheiten. Für Mr. Bones war die Schönheit des Rasens ein Geschenk Gottes, und er fand, er müsse wie heiliger Boden behandelt werden. Dick glaubte ebenfalls an diese Schönheit, aber er wußte, daß sie mühsam erkämpft werden mußte und unendliche Pflege und Sorgfalt verlangte, wenn sie Bestand haben sollte. »Rasenpflege« hieß das, und bis Mitte November verging keine Woche, in der Dick nicht mindestens einen ganzen Tag damit zubrachte, seine tausend Quadratmeter Rasenfläche zu trimmen und zu mähen. Er hatte seinen eigenen Mäher - ein orangeweißes Ding, das aussah wie eine Kreuzung aus Golfwagen und Zwergtraktor -, und jedesmal, wenn er den Motor in Gang setzte, hatte Mr. Bones das sichere Gefühl, sein Ende sei gekommen. Er haßte den Lärm dieser Höllenmaschine, haßte die ohrenbetäubende Wut ihres Gespuckes und Gestotters, haßte den Benzingestank, der sich in den letzten Winkel ausbreitete. Sobald Dick auf diesem Ding in den Garten gesaust kam, versteckte sich Mr. Bones in der Hundehütte und vergrub bei dem vergeblichen Versuch, sich die Ohren zu verstopfen, den Kopf unter den Decken, aber er konnte dem nicht entfliehen, es gab keine Rettung, wenn sie ihn nicht aus dem Garten ließen. Doch Dick hatte seine Regeln, und da Mr. Bones nun mal im Garten sein sollte, tat der Pilot einfach so, als bemerke er nicht, wie sehr der Hund litt. Die Wochen vergingen, und je länger die Angriffe auf seine Ohren dauerten, desto größer wurde seine Abneigung gegen Dick, der sich weigerte, Rücksicht auf ihn zu nehmen.
Keine Frage, die Dinge liefen besser, wenn Dick nicht da war. Das war eine Tatsache, und Mr. Bones nahm sie hin, so wie er einst Mrs. Gurevitchs harsche Behandlung hingenommen hatte. Zu Anfang war sie ihm gegenüber richtig feindselig gewesen. In seinem ersten Jahr in Brooklyn hatte es zahlreiche schmerzende Nasenstüber und mürrische Schimpfkanonaden der alten Meckerziege gegeben, viel böses Blut auf beiden Seiten. Aber das hatte sich ja alles geändert, oder? Am Ende hatte er sie doch für sich eingenommen, und wer weiß, vielleicht würde das mit Dick auch geschehen. In der Zwischenzeit versuchte Mr. Bones, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Er hatte jetzt drei Menschen zu lieben, und nach einem ganzen Leben als Ein-Mann-Hund war das mehr als genug. Selbst bei Tiger zeigten sich vielversprechende Ansätze, und als Mr. Bones erst gelernt hatte, sich vor den kneifenden Fingerchen in acht zu nehmen, konnte es mit ihm manchmal - in Maßen - sogar ganz lustig sein. Von Alice allerdings bekam Mr. Bones nie genug. Erwünschte, sie könnte mehr Zeit mit ihm verbringen, aber erst war sie den ganzen Tag in der verwünschten Schule, und dann kamen der Ballettunterricht am Dienstag und die Klavierstunden am Donnerstag, von den Hausaufgaben, die sie jeden Abend machen mußte, ganz zu schweigen, und so beschränkten sich ihre Besuche unter der Woche meist nur auf eine kurze frühmorgendliche Unterhaltung, wenn sie seine Decken ausschüttelte und Freß- und Wassernapf füllte, und dann auf die kurze Zeit vor dem Abendessen, wenn sie ihm berichtete, was sich seit dem Morgen zugetragen hatte, und ihn fragte, wie denn sein Tag verlaufen sei. Das war eines der Dinge, die er am liebsten an ihr mochte: wie sie mit ihm sprach, sorgsam von einem Punkt zum nächsten kommend und nichts auslassend, als gäbe es nicht den leisesten Zweifel daran, daß er alles verstand, was sie sagte. Die meiste
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