Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
wird bestimmt von dem, was er nie sieht, worüber er nie nachdenkt, was er einfach nicht weiß. Es ist eine Form des Zwangs, die fraglos akzeptiert wird. Derselbe Junge steht anderen Formen der Kontrolle sehr skeptisch gegenüber elterliche Verbote, Werbebotschaften, staatliche Gesetze. Aber die unsichtbare Herrschaft der Vergangenheit, die fast alles in seinem Leben bestimmt, wird nicht hinterfragt. Das ist wirkliche Macht. Macht, die man sich aneignen und benutzen kann. Denn so wie die Gegenwart von der Vergangenheit bestimmt wird, so auch die Zukunft. Deshalb sage ich, die Zukunft gehört der Vergangenheit. Und der Grund —«
Doniger brach verärgert ab. Kramers Handy klingelte, und sie nahm den Anruf entgegen. Unwirsch wartend marschierte er auf und ab. Probierte eine Geste, dann eine andere.
Schließlich schaltete Kramer ab und sah ihn an.
»Ja?« sagte er. »Was ist?«
»Das war Gordon. Sie sind noch am Leben, Bob.«
»Sind sie schon zurück?«
»Nein, aber wir haben eine Aufnahme ihrer Stimmen. Drei von ihnen sind auf jeden Fall am Leben.« »Eine Nachricht von ihnen? Wer hat herausgefunden, wie man das anstellt?«
»Stern.«
»Wirklich? Vielleicht ist er doch nicht so dumm, wie ich
dachte. Wir sollten ihn einstellen.« Er hielt kurz inne. »Willst du mir damit also sagen, daß wir sie doch zurückbekommen?«
»Nein. Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Wo liegt das Problem?«
»Sie halten ihre Ohrstöpsel ausgeschaltet.«
»Im Ernst? Aber warum? Die Batterien liefern Energie für siebenunddreißig Stunden. Es gibt keinen Grund, sie ausgeschaltet zu halten.« Dann starrte er sie an. »Glaubst du, es ist wegen ihm? Glaubst du, es ist Deckard?«
»Vielleicht. Ja.«
»Aber wie? Es ist jetzt über ein Jahr her. Deckard muß inzwischen tot sein – weißt du noch, wie er mit jedem Streit anfing?«
»Na ja, irgendwas hat sie dazu gebracht, ihre Ohrstöpsel auszuschalten …«
»Ich weiß nicht«, sagte Doniger. »Rob hatte zu viele Transkriptionsfehler, und er war völlig außer Kontrolle. Verdammt, er hatte eine Gefängnisstrafe vor sich.«
»Ja, weil er in einer Bar einen Kerl zusammenschlug, den er noch nie zuvor gesehen hatte«, sagte Kramer. »Laut Polizeibericht schlug er zweiundfünfzigmal mit einem Metallstuhl auf ihn ein. Der Mann lag ein Jahr lang im Koma. Und Rob wäre auf jeden Fall ins Gefängnis gewandert. Deshalb wollte er ja freiwillig noch einmal zurück.«
»Wenn Deckard noch lebt«, sagte Doniger, »dann haben sie noch immer Probleme.«
»Ja, Bob. Sie haben noch immer eine Menge Probleme.«
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09:57:02
In der kühlen Dunkelheit des Waldes zeichnete Marek mit einem Stock eine grobe Karte in die Erde. »Wir sind jetzt hier, hinter dem Kloster. Die Mühle ist da drüben, ungefähr einen knappen halben Kilometer entfernt. Dort gibt's einen Kontrollpunkt, an dem wir vorbeimüssen.« »Mhmh«, sagte Chris. »Und dann müssen wir in die Mühle hineinkommen.«
»Irgendwie«, sagte Chris.
»Genau. Und wenn wir den Schlüssel haben, gehen wir zur grünen Kapelle. Die wo liegt, Kate?«
Sie nahm den Stock und zeichnete ein Quadrat. »Wenn das La Roque ist, über dem Steilhang, dann liegt da im Norden ein Wald. Die Straße ist ungefähr hier. Ich glaube, die Kapelle ist nicht weit weg – hier vielleicht.«
»Zwei Kilometer? Drei Kilometer?«
»Sagen wir, drei Kilometer.«
Marek nickte.
»Na, das ist ja alles nicht schwer«, sagte Chris, stand auf und wischte sich die Erde von den Händen. »Wir müssen lediglich an den bewaffneten Wachen vorbei und in die befestigte Mühle kommen und dann zu der Kapelle gehen — wir dürfen uns dabei nur nicht umbringen lassen. Also dann los.«
Sie ließen den Wald hinter sich und wanderten durch eine Landschaft der Zerstörung. Flammen loderten über dem Kloster von Sainte-Mere, Rauchwolken verdunkelten die Sonne. Schwarze Asche bedeckte den Boden, legte sich ihnen auf Gesicht und Schultern und schwängerte die Atemluft. Sie schmeckten Ruß auf Lippen und Zunge. Am anderen Flußufer war gerade noch der dunkle Umriß von Castelgard zu erkennen, jetzt nur noch eine geschwärzte, rauchende Ruine auf der Hügelflanke.
Auf ihrem Marsch durch die Verwüstungen sahen sie lange Zeit keinen Menschen. Westlich des Klosters kamen sie an einem Bauernhaus vorbei, wo ein älterer Mann mit zwei Pfeilen in der Brust auf dem Boden lag. Aus dem Haus drang das Schreien eines Babys. Als sie hineinschauten, sahen sie eine zerstückelte Frau, die mit
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