Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
diese Leute schienen Sauberkeit förmlich zum Fetisch zu erheben. Jeder in der Burg war sauber, und es gab keine üblen Gerüche.
Sogar die Toilette, die er auf das Beharren des Jungen vor dem Waschen aufsuchen mußte, war nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Sie befand sich hinter einer hölzernen Tür im Schlafzimmer, ein schmales Kämmerchen mit einem Steinsitz über einem Becken, das sich in ein Rohr entleerte. Anscheinend flossen die Ausscheidungen hinunter ins Erdgeschoß, von wo sie täglich entfernt wurden. Der Junge erklärte, daß jeden Morgen ein Diener einen frischen Strauß duftender Kräuter in eine Klammer an der Wand stecke. Der Geruch war also nicht unangenehm. Genaugenommen hatte Chris in Flugzeugtoiletten schon Schlimmeres gerochen.
Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wischten diese Leute sich auch noch mit Streifen weißen Leinens sauber. Nein, dachte Chris, ganz und gar nicht so, wie ich es erwartet habe.
Einen Vorteil hatte dieses erzwungene lange Sitzen auf dem Hocker: Er konnte versuchen, mit dem Jungen zu sprechen. Der Junge war geduldig, und er sprach langsam mit Chris, wie mit einem Idioten. Aber so konnte Chris ihn hören, bevor sein Ohrstöpsel übersetzte, und er merkte sehr schnell, daß Nachahmung half. Wenn er seine Verlegenheit überwand und die archaischen Phrasen benutzte, die er in Texten gelesen hatte — und die der Junge selbst verwendete —, dann verstand der Junge ihn viel besser. So gewöhnte Chris es sich an, »mir dünkt« anstatt »ich denke« oder »fürwahr« anstatt »es stimmt« zu sagen. Und mit jeder kleinen Änderung schien der Junge ihn besser zu verstehen.
Chris saß noch immer auf dem Hocker, als Sir Daniel das Zimmer betrat. Er brachte ordentlich zusammengelegte Kleider, die sehr fein und teuer aussahen, und legte sie aufs Bett.
»Nun, Christopher de Hewes. Dann habt Ihr Euch also mit unserer gerissenen Schönheit eingelassen.«
»Sie hat mir das Leben gerettet«, erwiderte Chris.
»Ich hoffe nur, es macht Euch keine Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten?«
Sir Daniel seufzte. »Sie sagt mir, mein Freund, daß Ihr von Adel seid und doch kein Ritter. Seid Ihr ein Squire?«
»Fürwahr, das bin ich.«
»Ein Squire also. Ziemlich alt für einen Junker«, sagte Sir Daniel, dem die altertümlichen Wendungen das Verständnis sichtlich erleichterten. »Wie steht's um Eure Ausbildung an den Waffen?«
»Meine Ausbildung an den Warfen …« Chris runzelte die Stirn. »Nun, ich habe, äh —«
»Habt Ihr überhaupt eine? Sagt es mir unumwunden: Wie steht's um Eure Ausbildung?«
Chris beschloß, besser die Wahrheit zu sagen: »Fürwahr, ich bin – ich meine, ausgebildet – in meinen Studien – als Scholast.«
»Scholast?« Der alte Mann schüttelte verständnislos den Kopf. »Escolie? Esne discipulus? Studesne sub magistro?« Studiert Ihr unter einem Meister?
»Ita est.« So ist es.
»Ubi?« Wo?
»Ah… in, äh, Oxford.«
»Oxford?« Sir Daniel schnaubte. »Dann habt Ihr hier nichts zu schaffen, mit solchen Damen wie Mylady. Glaubt mir, wenn ich Euch sage, daß dies kein Ort für einen scolere ist. Ich will Euch erklären, wie die Umstände hier beschaffen sind.«
»Lord Oliver braucht Geld, um seine Soldaten zu bezahlen, und all die umliegenden Städte hat er schon ausgeplündert. Deshalb drängt er Claire zur Ehe, denn er erwartet ein Brautgeld. Guy de Malegant hat ein stattliches Angebot gemacht, eins, das Lord Oliver sehr willkommen ist. Aber Guy ist nicht reich, und er kann dieses Brautgeld nur aufbringen, wenn er Myladys Ländereien beleiht. Doch dem stimmt sie nicht zu. Viele glauben, daß Lord Oliver und Guy schon lange eine geheime Übereinkunft getroffen haben — der eine verkauft Lady Claire, der andere ihr Land.«
Chris sagte nichts.
»Doch es gibt noch ein weiteres Hindernis für diese Vereinigung. Claire verachtet Guy, weil sie argwöhnt, daß er beim Tod ihres Gatten die Hand im Spiel hatte. Guy wartete Geoffrey zum Zeitpunkt seines Todes auf. Jeder war überrascht von der Plötzlichkeit seines Abtretens von dieser Welt. Geoffrey war ein junger und kräftiger Ritter. Obwohl seine Wunden schwer waren, erholte er sich gut. Niemand kennt die wahren Begebenheiten dieses Tages, aber es gibt Gerüchte — viele Gerüchte —, daß Gift im Spiel gewesen sei.«
»Verstehe«, sagte Chris.
»In der Tat? Ich bezweifle es. Denn bedenkt: Lady Claire ist so gut wie eine Gefangene Lord Olivers auf dieser Burg. Sie mag sich allein
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