Timm Thaler
gerufen hatte, kam ihn ein solches Jammergefühl an, daß ihm beinahe übel davon
wurde. Aus dem Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers sah ein
fremdes Mädchen heraus, das eine teure, kostbar angezogene Puppe
im Arm hielt. Als sie Timms Blicke bemerkte, streckte sie ihre
Zunge heraus, und Timm ging rasch weiter.
„Wenn ich sehr viel Geld hätte“, dachte er unter dem Herumirren,
„dann würde ich eine große Wohnung mit einem eigenen Zimmer für
mich mieten, und Erwin bekäme jeden Tag Taschengeld von mir,
und die Mutter könnte einkaufen, was sie wollte.“ Aber das war ein Traum, und Timm wußte es.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, war er jetzt unterwegs zur
Pferderennbahn, die er an den glücklichen Sonntagen mit seinem
Vater zusammen besucht hatte, als der Vater noch lebte.
Zweiter Bogen
Der karierte Herr
Das erste Rennen näherte sich gerade seinem Höhepunkt, als Timm
zur Pferderennbahn kam. Die Zuschauer brüllten und pfiffen, und
immer öfter und immer lauter ertönte der Name „Ostwind“.
Timm stand da und atmete schwer, und das hatte zwei Gründe.
Erstens war er gelaufen, und zweitens schien ihm plötzlich,
irgendwo zwischen diesen schreienden, lärmenden Leuten müsse
sein Vater stehen. Er hatte mit einem Male das Gefühl, wieder zu
Hause zu sein. Dies war der Ort, an dem er mit dem Vater allein
gewesen war. Ohne Stiefmutter. Und ohne Erwin. Alle Sonntage mit
dem Vater waren in dieser Menschenmenge, in diesem Lärmen und
Schreien versammelt. Es gab keinen Friedhof mehr und keine
Tränen. Timm fühlte sich merkwürdig ruhig, beinahe heiter. Als die Menge der Zuschauer plötzlich aufjubelte und wie aus einem Munde
der Name „Ostwind“ aufklang, lachte Timm sogar sein drolliges
Lachen mit dem Schlucker am Schluß. Er erinnerte sich nämlich an
eine Bemerkung seines Vaters, der gesagt hatte: „Ostwind ist noch jung, Timm, zu jung vielleicht; aber eines Tages wird man von ihm sprechen.“
Und jetzt sprach man von „Ostwind“; aber der Vater hatte es nicht mehr erlebt. Timm wußte selbst nicht, warum er darüber hatte lachen müssen. Aber er dachte auch nicht darüber nach. Er war noch nicht in dem Alter, in dem man sich über sich selbst viel Gedanken macht.
Ein Herr in Timms Nähe, der das drollige Lachen gehört hatte,
drehte mit einem Ruck den Kopf und betrachtete den Jungen
aufmerksam. Er strich sich nachdenklich das lange Kinn und ging
dann kurz entschlossen auf den Jungen zu, aber so, daß er haarscharf an Timm vorübereilte und ihm dabei auf den Fuß trat.
„Verzeihung, Kleiner“, sagte er dabei. „Es war nicht meine
Absicht.“
„Das macht nichts“, lachte Timm. „Ich habe sowieso staubige
Schuhe.“ Dabei warf er einen Blick auf seine Füße und sah plötzlich vor sich auf dem Rasen ein blankes Fünfmarkstück liegen. Der Herr war weitergeeilt, und niemand stand in Timms Nähe. Da setzte der
Junge rasch einen Fuß auf die Münze, sah sich mißtrauisch um, tat, als wolle er seine Schnürsenkel binden, hob schnell und verstöhlen das Geldstück auf und ließ es in die Tasche gleiten.
Betont langsam schlenderte Timm weiter, als ein langer dürrer
Herr in einem karierten Anzug auf ihn zutrat und fragte: „Na, Timm, willst du wetten?“
Der Junge sah verstört zu dem Unbekannten auf. Er bemerkte
nicht, daß es derselbe Herr war, der ihn kurz zuvor auf den Fuß
getreten hatte. Der Fremde hatte einen Mund wie ein Strich und eine schmale Hakennase, unter der ein ganz dünner schwarzer
Schnurrbart saß. Über stechenden, wasserblauen Augen hatte er eine Ballonmütze tief in die Stirn gezogen. Und die Mütze war so kariert wie der Anzug des Unbekannten.
Timm fühlte, als der Herr ihn so unvermittelt ansprach, einen
Kloß in der Kehle. „Ich… ich habe kein Geld zum Wetten“, brachte
er schließlich stockend hervor.
„Doch, du hast fünf Mark“, sagte der Fremde. Dann fügte er in
leichtem Ton hinzu: „Ich sah zufällig, wie du das Geld fandest. Falls du damit wetten willst, nimm diesen Schein. Ich habe ihn schon
ausgefüllt. Ein todsicherer Tip.“
Timm, der abwechselnd blaß und rot geworden war, bekam jetzt
im Gesicht langsam seine natürliche Farbe zurück, eine Art
Haselnußbraun (ein Erbteil seiner Mutter). Er sagte: „Kinder dürfen nicht wetten, glaube ich.“ Und wieder sprach er mit Stocken.
Aber der Fremde ließ nicht locker. „Dieser Rennplatz“, sagte er,
„ist einer der wenigen, auf denen Kindern das Wetten
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