Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
konnte kaum noch atmen. Zobayda legte ihre Arme um seine Taille und hielt sich an ihm fest.
„Jetzt!“, rief die Königin.
Timoken schloss die Augen und hob das Gesicht der heißen Sonne entgegen. Er beugte ein wenig die Knie und machte einen Satz nach vorn, genau wie er es tat, wenn er von einem umgestürzten Baum im Wald sprang. Nur diesmal konzentrierte er sich darauf, dass seine Füße den Boden für eine ganze Weile nicht berühren würden.
Und tatsächlich erhob er sich langsam in die Lüfte. Die Sonne brannte ihm ins Gesicht und er klammerte sich an seine Schwester. So stiegen sie höher und höher in den Himmel hinauf.
„Timoken!“, hörte er seine Mutter rufen. „Timoken, bewahre dein Geheimnis! Erzähle niemal s … Lass niemanden wissen, wozu du in der Lage bist.“
Timoken öffnete die Augen und sah zum Palast hinab. Seine Mutter war in einer schwarzen Woge von Kriegern verschwunden. Sie bevölkerten das gesamte Dach des Palastes und ihre Waffen glänzten in der glühenden Sonne.
„Zobayda, ich kann unsere Mutter nicht mehr sehen!“, rief Timoken weinend.
Doch Zobayda brachte es nicht übers Herz zurückzublicken. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie vergrub das Gesicht an der Schulter ihres Bruders. „Mutter!“, schluchzte sie verzweifelt.
Timoken begriff allmählich, dass sie von nun an auf sich allein gestellt waren. Ihr Leben hatte sich in diesem Augenblick für immer verändert. Doch er konnte fliegen und seine Schwester besaß magische Kräfte in den Fingern. Sie würden überleben. Er wusste nun, dass er sich nur mithilfe seiner Gedanken durch die Luft bewegen konnt e – allein mit reiner Willenskraft.
Das Netz der Mondspinne
Der Wald-Dschinn hatte der Königin nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er hatte Angst, sie würde das Mondspinnennetz zurückgeben, wenn sie wüsste, was es damit auf sich hatte. So hatte er ihr verschwiegen, dass ein Neugeborenes, das in das Netz gewickelt wurde, für immer mit einem Fuß in der Welt der Menschen und mit dem anderen in einem Zauberreich stehen würd e – einem Reich, in dem es nicht nur gute Geister gab, sondern auch solche, die nicht besonders liebenswürdig waren. Die Schlimmsten von allen aber waren die Viridees.
Sobald Timoken aus dem Königreich geflohen war, spürten die Viridees, dass das Netz mit ihm das Land verlassen hatte. Sie konnten es riechen.
Ohne von der Existenz der Viridees und ihrer boshaften Absicht auch nur das Geringste zu ahnen, schwebten Timoken und seine Schwester durch den weiten Himmel. Obwohl ihre Gedanken nach wie vor durch den Verlust ihrer Eltern getrübt waren, staunten sie, wie hoch sie über der Erde flogen. Doch keiner von beiden konnte sich überwinden zu reden. Stunde um Stunde trieben sie schweigend durch die Luft und grübelten, wohin sie sich wenden oder wann sie wieder auf der Erde landen sollten.
Ihr Vater hatte ihnen beigebracht, dass die Sonne jeden Tag in einem Bogen von Osten nach Westen über den Himmel wandert. Jenseits des Walde s – im Norden, Osten und Weste n – erstreckte sich eine unendliche Wüste, in der es kein Leben gab. Im Süden, wo die Sonne ihren Zenit erreichte, lag eine Welt aus Wasser. Dort gab es Leben: Vögel, Fische und riesige Geschöpfe, die fast so groß waren wie der Palast.
Timoken sah, dass die Sonne schon tief im Westen stand, und wünschte sich nach Süden, wo bereits nächtliche Wolken heraufzogen. Zobayda war so erschöpft, dass sich ihre Arme um Timokens Taille zu lockern begannen. Er musste sie festhalten, doch auch ihm wurden die Lider schwer und er sehnte sich danach, die Augen zu schließen.
Nach unten, dachte Timoken. Ich muss nach unten. Augenblicklich begann er zu fallen. Schon konnte er Wellen unter sich rauschen hören, spürte die wirbelnde Bewegung eines großen Gewässers und fühlte plötzlich etwas absolut Ungewohntes: eine kalte Feuchtigkeit, die zu ihm aufstieg und von ihm Besitz ergreifen wollte.
Zobaydas Füße berührten das Wasser als Erstes.
„Timoken!“, rief sie. „Weg hier! Was auch immer unter uns ist, es wird uns töten!“
Eisige Klauen griffen im selben Moment nach ihren Fersen.
Timoken spürte, wie seine Füße bereits die Wasseroberfläche streiften, doch er konnte nicht aufsteigen. Die Klauen umschlossen nun gierig seine Beine. Die Kälte machte ihn ganz wirr im Kopf und seine Kräfte verließen ihn.
„Ich kann nicht mehr!“, stöhnte Timoken.
„Du musst! “, schrie seine Schwester. „Du musst
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