Tinnef
Essayist, scheute vor dieser Aufgabe nicht zurück und bestritt drei Jahre lang mit seinem Kollegen Alfred Polgar Doppelconferencen, die schnell zum Stadtgespräch wurden. Unvergesslich war Bronstein dabei der sogenannte Goethe-Sketch, über den er immer noch Tränen lachen konnte. In dieser Nummer kehrt der Dichterfürst auf die Erde zurück und lässt sich von einem verzweifelten Schüler dazu überreden, an seiner statt die Abschlussprüfung zum Thema „Johann Wolfgang von Goethe“ abzulegen. Der Geheimrat aus Weimar fällt mit Bomben und Granaten durch, da schlicht nichts, was er über sein Werk zu sagen hat, auf die Zustimmung des ihn prüfenden Deutschprofessors stößt. Jedem Absolventen einer höheren Schule musste dabei automatisch das Herz im Leibe hüpfen, denn er konnte sich in seinem Unverständnis über das Schulsystem gar herrlich verstanden fühlen.
Doch Friedell hatte die Leitung der „Fledermaus“ schon vor über zwei Jahren zurückgelegt, und auch Polgar und Pointenschreiber Peter Altenberg waren schon lange nicht mehr mit von der Partie. Zuletzt, so rief sich Bronstein in Erinnerung, hatten sogar Gerüchte über eine vorstehende Pleite des Lokals die Runde gemacht. Es war also angezeigt, sich vorher darüber zu informieren, ob in der „Fledermaus“ überhaupt noch gespielt wurde.
Dafür empfahl ihm sein Kollege Hölzl indirekt ein anderes Lokal. Er sei dieser Tage in dem neu eröffneten Etablissement „Simplicissimus“ in der Wollzeile gewesen, und er habe Tränen gelacht. Nun, dies war vielleicht die Lösung seines Problems, dachte Bronstein, denn so konnte er vielleicht sogar mit einer Neuheit Eindruck machen. Doch Hölzl war ein eher simples Gemüt, wer vermochte zu sagen, ob sein Humor sich mit dem einer Dame der besten Gesellschaft deckte. Am besten, er sah sich die Sache erst einmal an, ehe er Marie Caroline dorthin verschleppte.
„Lang!“, rief er.
Sein Kollege tauchte aus dem Aktenberg auf, der sich zwischen seinem und Bronsteins Schreibtisch auftürmte. „Hier“, maulte er knapp und unwillig.
„Heut Abend geh’n wir ins Cabaret!“
Lang war sein Erstaunen anzusehen. „Was? Wirklich?“
„Wirklich!“
„Ist des noch einmal dienstlich? Müssen wir wieder einen Revoluzzer beschatten?“
„Nein, Lang, das ist privat. Allein zum Vergnügen.“
„Oje, Okomm, Vergnügen kann ich mir ned leisten.“
„Sorg dich nicht, Lang, das geht auf meine Kappe. Und ein Bier zahl ich dir auch noch. Also, was sagst?“
Lang sagte nichts. Stattdessen wuchtete er seinen Körper hoch und schlurfte zum Garderobenständer. Er nahm seinen Überrock vom Haken, zog ihn umständlich an und schlich dann zu Bronsteins Schreibtisch. Dort nahm er umständlich Haltung an. Für einen Augenblick verloren seine Absätze die Bodenhaftung. Er schlug sie zusammen und legte dabei die rechte Hand ausgestreckt an die Schläfe.
„Stabsgefreiter Lang meldet sich zur Stelle!“, schmetterte er.
Bronstein musste grinsen. „Na dann, auf ins Gefecht!“
Nachdem sie nahe dem Bahnhof noch schnell ein Gulasch gegessen hatten, fuhren sie mit der Tramway zum Ring, stiegen dort in die Ringlinie um und gelangten so an die Oper, von wo aus sie ihren Weg zu Fuß fortsetzten. Gute zehn Minuten später passierten sie den Stephansdom, um bald danach in die Wollzeile einzubiegen. Nach knappen zweihundert Metern hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie betraten das Etablissement und verlangten einen Tisch für zwei. Ein junges Ding in eher aufreizender Kleidung, wie Bronstein besorgt registrierte, führte sie ziemlich nahe an die Bühne, wo sie an der linken Seite Platz nehmen konnten. Ein weiß-rot kariertes Tuch deckte die Tischplatte ab, darauf standen Salz- und Pfefferstreuer, ein Gestell mit Brezeln sowie ein weiteres mit Bierdeckeln. Dazwischen thronte ein schwerer gläserner Aschenbecher.
Bronstein hatte seine Zigaretten noch nicht aus der Tasche geholt, als schon ein Kellner neben ihnen aus dem Boden gewachsen war. „Was darf ich den Herrschaften bringen?“
„Zwei große Bier“, orderte Bronstein, um sodann nachzusetzen: „Wann fangt denn das Programm an?“
„In einer knappen halben Stunde.“
Die Wartezeit verkürzte sich Bronstein damit, das Publikum und den Saal eingehend zu betrachten. Im Prinzip war alles sehr einfach gehalten, und auch die Zuschauer stammten eher aus dem Kleinbürgertum. Aber so weit mochte die Sache dennoch angehen, denn Bronstein sah auch einige jüngere Leute, die er ohne zu
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