Tinnef
dann wäre das immer noch ein Fall, den die Armee intern zu klären hat. So oder so, die Sache geht uns nichts an.“
„Aber Herr Hofrat …“
„Nichts aber. Die G’schicht ist gegessen. Sie sind den Fall hiermit offiziell los. Entbunden, haben Sie mich gehört! Die letzte formale Handlung, die Sie in dieser Angelegenheit noch setzen, ist, den Mann sofort wieder zur Stiftskaserne bringen zu lassen. Und Sie gehen heim. Wir sprechen uns morgen. Da werde ich dann überlegen, was ich mit Ihnen anfange, Sie … ach, mir ist schlecht. Wiederhören.“
Bronstein zuckte zusammen. Damit hatte er nun nicht gerechnet. Er war kaum zwei Wochen beim Agenteninstitut, und schon schien es, als wäre er diesmal wirklich im Orkus. An das Donnerwetter am folgenden Tag wagte er gar nicht zu denken. So euphorisch war er noch vor wenigen Tagen gewesen – und jetzt schien unwiderruflich das Ende seiner Polizeikarriere gekommen. Mit steinerner Miene empfahl er sich bei den ihn umgebenden Beamten und ordnete beinahe tonlos die Freilassung Baumgartens an. Dann schlich er in gebückter Haltung auf das Tor der Polizeikaserne zu und lehnte sich dort an den Türrahmen. Mit zittrigen Fingern förderte er eine Zigarette zutage und steckte sie an. Der Rauch verlor sich in der kalten Winterluft, und Bronstein kam nicht umhin, Vergleiche zwischen diesem und seiner Zukunft anzustellen.
Gerade als er sich anschickte, zu Pokorny zurückzukehren, um diesem von der Katastrophe zu berichten, fuhr der Polizeiwagen mit Baumgarten im Fond an ihm vorbei. Bronstein versuchte, demonstrativ in die andere Richtung zu blicken, doch just als das Gefährt auf gleicher Höhe war, hielt es an. Baumgarten beugte sich aus dem Fenster: „Hab ich es dir nicht gesagt, Kieberer? Weißt, recht haben heißt halt nicht immer recht bekommen.“
Bronstein fuhr wie von einer Nadel gestochen herum und sah Baumgarten direkt ins Gesicht. Dieser lächelte spöttisch und zwinkerte mit dem rechten Auge. Dann klopfte er an die Trennscheibe und signalisierte dem Fahrer, dass die Reise weitergehen konnte. Bronstein blieb sprachlos zurück. Erst nach einer kleinen Weile memorierte er sich Baumgartens Satz. „Also doch. Ich hatte recht“, murmelte er.
VIII.
Donnerstag, 1. Mai 1913
Was waren das für zwei horrible Monate gewesen! Immer wenn Bronstein gedacht hatte, am absoluten Tiefpunkt angelangt zu sein, kam es noch schlimmer, und nichts, aber auch gar nichts, schien seinen Fall ins Bodenlose zu bremsen. Gleich nach dem fehlgeschlagenen Versuch, Baumgarten des Mordes an Mészáros zu überführen, hatte sich die gnadenlose Maschinerie in Bewegung gesetzt, die ihn seitdem zermalmte. Und sie tat dies mit sehr großem Genuss und ließ sich gehörig Zeit für ihr Werk.
Zunächst hatte ihn Nechyba zu sich einbestellt. Diese Begegnung würde Bronstein so schnell nicht vergessen. Jedes Wort, das aus dem Mund des Vorgesetzten abgefeuert wurde, riss ein tiefes Loch in Bronsteins Seele, und selbst jetzt, volle 64 Tage danach, konnte er sich an jede einzelne Sequenz dieser verbalen Justifizierung erinnern.
Zu welcher Hybris er sich denn noch zu versteigen gedenke, hatte Nechyba gebrüllt. Ob er glaube, Gott und Kaiser in einer Person zu sein! Wie er überhaupt die Infamie besitzen könne, ernsthaft zu glauben, er könne sich über alle gesellschaftlichen Schranken einfach so hinwegsetzen! Mit seiner Wahnsinnstat, die noch dazu jeglicher sachlichen Grundlage vollkommen entbehrte, habe sich Bronstein mit Schande bis an sein Lebensende bedeckt und, schlimmer noch, seine Gönner, die ihn so großzügig unterstützt hatten, auf das Schlimmste desavouiert.
Schon damals hatte Bronstein geahnt, dass dieser Satz nur auf den Vater von Marie Caroline gemünzt sein konnte, und in der Tat bekam die Beziehung, die so hoffnungsvoll begonnen hatte, durch die ganze Affäre einen herben Schlag versetzt. Beim Herrn Papa war er Wochen hindurch Persona non grata, und es kostete ihn enorm viel Mühe und Beharrlichkeit, wenigstens das Fräulein Tochter in einem Zustand distanzierter Gewogenheit zu halten.
Natürlich hatte der Vater Baumgartens höchstoffiziell Beschwerde gegen Bronstein eingelegt. Damit nicht genug, protestierte auch noch der Generalstabschef höchstpersönlich. Und in einigen Zeitungen war die ganze Sache, wenn auch verklausuliert und ohne Namensnennungen, aufgegriffen worden, wobei der Tenor in allen Blättern derselbe war: Dreister jüdischer Übergriff auf aufrechten deutschen Recken.
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