Tinnef
bekommen hatten, am Geldschalter der Hauptpost auf einen Verdächtigen zu warten, der eine unerhört hohe Summe beheben würde, die ausgerechnet von der russischen Grenzstation als Postanweisung auf den Weg gebracht worden war, was höheren Orts den Verdacht nahegelegt hatte, dass der Empfänger dieser Summe entweder in irgendeiner Weise bestochen werden sollte oder gar ein Spion war. Was sich freilich im ersten Moment spannend angehört hatte, wurde für Bronstein zur enervierenden Routine. Fast ebenso wie Marie Carolines Ungnädigkeiten. Und dass er schließlich just für jenen Tag zum Dienst auf der Post eingeteilt wurde, an dem eigentlich das Diner bei Marie Carolines Eltern vorgesehen war, erleichterte die Sache auch nicht gerade. Bronstein wartete so lange als möglich mit der Übermittlung dieser Tatarennachricht zu. Doch am Ende kam dennoch die unausweichliche Explosion.
„Ich wusste es doch!“, schrie Marie Caroline. „Das tust du absichtlich. Du willst mich vorsätzlich ruinieren!“
„Aber ich habe dir das doch schon erklärt. Befehl ist Befehl. Den könnte dein Vater auch nicht ignorieren“, versuchte Bronstein sie zu begütigen. Er sah Marie Caroline mit einem Blick an, der das Heischen um Verständnis signalisieren sollte und doch wie ein Vorwurf wirkte. Marie Caroline schürzte die Lippen und starrte schweigend vor sich hin.
„Aber so versteh doch!“
Bronsteins Appell ging ins Leere. Sie rührte sich nicht, sah weiter stur auf das Kaffeegeschirr, das vor ihr auf dem Tisch stand. Für einen scheinbar unendlichen Zeitraum, der doch nur Augenblicke dauerte, bewegte sich nichts im Raum, nur der Rauch von Bronsteins Zigarette bildete Wolken, die unsagbar langsam Richtung Tür wanderten. Dann ertrug Bronstein die Stille nicht länger. Er seufzte laut und vernehmlich und dämpfte energisch seine Zigarette aus. „Schau, Liebes, es ist ja letztlich nicht wirklich etwas verloren. Wir soupieren heute mit deinen Eltern, um 15 Uhr begebe ich mich zum Dienst, und du siehst dir wie geplant mit deiner Mutter die Oper an. Das hast du doch ohnehin schon lange geplant. Wo ist also das Problem? Und morgen werde ich um acht Uhr früh abgelöst und bin daher rechtzeitig zum Frühstück wieder hier.“
Fast schien es, als stampfte Marie Caroline mit dem Fuß auf, als sie Bronstein nun zornig in den Blick nahm. „Aber das Diner ist perdu. Und du und dein dämlicher Dienst, ihr seid schuld daran.“
„Aber mein Schatz, was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Dem Regierungsrat Gayer sagen, er soll sich seinen Dienst sonstwohin stecken? Wovon sollen wir dann deiner Meinung nach leben?“
„Das ist mir alles vollkommen gleichgültig“, schnaubte sie, „das würde alles nicht passieren, wenn du dich nicht unmöglich gemacht hättest. Blamiert hast du dich bis auf die Knochen mit deiner wahnsinnigen Idee, dieser Ungar wäre ermordet worden. Und dann legst du dich auch noch mit dem ganzen Generalstab an. Und anstatt dass du dich entschuldigt und versucht hättest, das Ganze irgendwie zu kitten, spielst jetzt den Spinatwachter. … Als ob es nicht ohnehin schon inkommodierend genug wär, dass ich bei meinen Freundinnen immer so tun muss, als stünde dir eine glänzende Karriere im Dienste Seiner Majestät bevor.“
Bronstein war entsetzt. Dachte sie wirklich so über ihn? Was war das für ein Mensch, in den er sich da verliebt hatte? Das war nicht der süße kleine Fratz, der ihn vor gerade einmal drei Monaten so liebevoll angelächelt hatte, das war ein verzogenes und verwöhntes Gör, das offensichtlich keine Ahnung hatte, wie es in der Welt wirklich zuging.
Bronstein wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch er ließ es bleiben. Was hätte er auch sagen sollen? Dass es zumindest nicht unwahrscheinlich war, dass er doch noch eine glänzende Karriere im Staatsdienst machte? Dass der Herr Papa von Marie Caroline auch nicht gerade zur Crème de la Crème der Wiener Gesellschaft gehörte? Dass ihm die permanente Großmannssucht Marie Carolines schon lange auf die Nerven ging? Jeder einzelne Punkt hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht, also schien es besser, vorerst zu schweigen.
Instinktiv blickte Bronstein auf die Uhr. Es war kurz nach elf. In einer knappen Stunde würden sie in der Wohllebengasse erwartet werden. Da kleidete er sich besser an. Bronstein stand auf und verließ den Raum.
Schon türmte sich das nächste Problem vor ihm auf. Was zog er an? Es musste adäquat für den Empfang bei Marie
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