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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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Dabei war ironischerweise weit weniger seine Anschuldigung, Baumgarten hätte seinen Kameraden ermordet, Anlass zu dem gedruckten Zornesbeben als vielmehr die „unglaublich infame Unterstellung“, ein deutscher Offizier könne sich der widernatürlichen Unzucht verschrieben haben. Hier habe, so hieß es in den Gazetten, eine verkommene Existenz ihre wesenseigene jüdische Perversion auf einen Vertreter der deutschen Kultur zu übertragen versucht, was einmal mehr die Schlussfolgerung nahelege, dass zwischen Deutschtum und Jüdelei eine unüberwindbare Kluft bestehe, sodass die strikte Scheidung dieser beiden Gegensätze unumgänglich sei.
    Und dabei musste Bronstein für diese ekelhaften Anwürfe sogar indirekt noch dankbar sein, denn sie brachten Marie Caroline dazu, sich trotz ihres Zorns ob seiner „unglaublichen Dummheit“ mit ihm zu solidarisieren, da die gegen ihn vorgebrachte Kampagne in ihrer „Dummheit ja noch unglaublicher“ sei. Und wahrscheinlich rettete das antisemitische Trommelfeuer sogar seine Zugehörigkeit zur Wiener Polizei, denn das Polizeipräsidium wollte nicht in den Geruch kommen, auf Zuruf der extremen Rechten wie ein Hund deren Stöckchen zu apportieren.
    Doch Pokornys düstere Prognose schien sich zu bewahrheiten. Nachdem Bronstein zwei Wochen lang vom Dienst suspendiert gewesen war, in denen er die meiste Zeit damit beschäftigt war, die Wände hochzugehen und sich wahlweise bei Marie Caroline oder seiner Mutter auszuweinen bzw. sich im Beisein Pokornys, der gleich ihm, wenn auch nicht so hart, bestraft worden war, zu betrinken, teilte man ihn in der zweiten Märzhälfte tatsächlich der Verkehrsabteilung zu. Er hatte den Verkehr auf der Opernkreuzung zu regeln und stand bei Wind und Wetter mitten auf der Ringstraße und wedelte mit den Armen.
    Und als ob diese Strafversetzung nicht schon demütigend genug gewesen wäre, kamen in regelmäßigen Abständen die lieben Kollegen, um ihn wie ein Tier im Zoo zu begaffen und sich über seine trostlose Lage zu erheitern.
    Vielleicht war es aber just deren Verhalten gewesen, das ihm die Kraft gegeben hatte, auf seinem traurigen Posten durchzuhalten. Die Versetzung war zeitlich unbefristet erfolgt, wobei man ihm mitgeteilt hatte, er erhalte damit die Chance, über seine Verfehlungen nachzudenken und sich durch vorbildliche Dienstführung wenigstens teilweise zu rehabilitieren. Wenn man höheren Orts zu dem Schluss komme, er habe wieder ein wenig Vertrauen seitens seiner Vorgesetzten verdient, dann werde man zu gegebener Zeit darüber nachsinnen, ihn wieder an einer Stelle einzusetzen, die seiner Ausbildung eher entspreche als die Position eines Schutzmanns. Und Bronstein war wild entschlossen, diese Entwicklung durch makellosestes Verhalten tunlichst zu beschleunigen. Wenn er wenigstens wieder an einem Kommissariat Dienst tun konnte, so dachte er, dann war immerhin die Zeit am Schandpfahl vorbei.
    Und dann war der 30. April herangekommen. Bronstein war wie immer an der Ecke Kärntner Straße und Ringstraße gestanden, als ein Bürodiener des Präsidiums auf dem Trottoir auftauchte und ihm hektisch winkte. „Sie sollen morgen um zehn Uhr beim Regierungsrat Gayer vorsprechen. Der hat Neuigkeiten für Sie“, hatte der Mann schließlich gerufen, und Bronsteins Herz hüpfte ganz aufgeregt in seiner Brust. Konnte es wirklich sein, dass er seine Strafe nach knapp neun Wochen schon abgesessen hatte? Die nächsten Minuten würden Klarheit bringen. Verschüchtert wie ein Taferlklassler saß er vor den Amtsräumen des Regierungsrates und wartete darauf, dass man ihm Einlass gewährte. Und endlich, nach einer schieren Ewigkeit, ging die Tür auf, und eine teilnahmslose Stimme erklärte: „Der Herr Regierungsrat lässt jetzt bitten.“
    Unsicheren Schritts näherte sich Bronstein dem prunkvollen Schreibmöbel, hinter dem sich der Regierungsrat verschanzte.
    „Ah, Bronstein, Sie Zierde der ganzen Abteilung“, schnarrte dieser. „Sie haben ja einen kapitalen Bock g’schossen, was? Na meine Herren, Sie können froh sein, dass wir im Heute leben, weil vor hundert Jahr, mein lieber Schwan, da wären S’ für so was füsiliert worden. Da hätt man Sie einfach vor die Kanon’ bunden, ned wahr, und bummmm!“
    Dabei lächelte der Regierungsrat infantil, während Bronstein verzweifelt versuchte, demütig und schuldbewusst zu wirken. „Aber gut, damals war damals, jetzt ist jetzt … Was machen wir also mit Ihnen, Bronstein? Ha, sagen S’ mir

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