Tinnef
geringen Betrag und folgte dann Marie Caroline in den Hausflur. Sie gingen die wenigen Meter bis zur Plattform im Erdgeschoß, schoben die Gittertür auf und betraten den Aufzug. Bronstein schob den Etagenknopf in die vorgesehene Öffnung, und der Holzkasten setzte sich ruckend und zuckend in Bewegung. Während Marie Caroline nervös an ihrem Kleid herumzupfte, konnte Bronstein nicht umhin, ein weiteres Mal von dieser neuartigen Technik fasziniert zu sein, die einem das mühevolle Stiegensteigen ersparte. Beinahe ärgerte es ihn, dass die Holzvertäfelung den Blick auf das Stiegenhaus verstellte, denn er war sich sicher, dadurch einen grandiosen Ausblick zu verpassen. Stattdessen blieb ihm nur, noch einmal seine äußere Erscheinung in dem großen Spiegel, der gegenüber dem Einstieg angebracht war, zu überprüfen. Nach viel zu kurzer Fahrt musste er abermals eine Gittertür zur Seite schieben, und schon standen sie vor der Wohnungstür der Eltern. Bronstein klopfte.
Die Zugehfrau öffnete und verbeugte sich dabei. „Die Herrschaften erwarten Sie bereits“, nuschelte sie. „Guten Tag, Josefine“, grüßte Bronstein sie jovial, während sich Marie Caroline auf ein kaum merkliches Nicken beschränkte. Die beiden waren noch nicht an der Tür zum Speisezimmer angelangt, als ihnen schon die Frau Mama entgegenkam. In ihrem hochgeschlossenen Kleid wirkte sie noch mehr als üblich wie eine Matrone, und Bronstein beeilte sich, ihr einen Handkuss zu geben, um ihr nicht länger ins Gesicht sehen zu müssen. Die Versuchung zu grinsen wäre einfach zu groß gewesen.
Während sich Mutter und Tochter herzlich in die Arme fielen, betrat nun auch der Herr von Ritter das Zimmer. Er trug Hausschuhe, eine graue Flanellhose, ein raues Hemd und darüber eine gestrickte Weste. Bronstein fuhr ob dieser Adjustierung instinktiv zurück. Er sah Marie Caroline an und die betreten zu Boden. Neuerlich unterdrückte Bronstein ein Grinsen. „Herr von Ritter“, sagte er dann und verbeugte sich leicht.
„Aber David, habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich Papa nennen?“ Mit breitem Lächeln streckte Ritter David die Rechte entgegen. Eigentlich nicht, dachte sich dieser und ergriff die ausgestreckte Hand. Ritter nahm dies zum Anlass, Bronstein zum Fenster zu führen.
„Ich habe gehört, du hast heute am Abend Dienst. Ist das nicht höchst ungewöhnlich?“
„Ganz im Gegenteil …, Papa, … so wie das Verbrechen nie schläft, darf eben auch die Polizei nicht schlafen.“ Ritter sah über Bronsteins Schulter zu seiner Tochter hin. „Siehst du, mein Augenstern, es hat eben alles seinen guten Grund.“ Marie Carolines Schnauben erinnerte Bronstein an einen aggressiven Hengst, doch er beschloss, nicht länger darauf zu achten. „Aber sprechen wir nicht von langweiliger Ermittlungstätigkeit“, lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder Ritter zu, „wie gehen die Geschäfte?“
Ritter schien übermütig laut zu lachen, als er entgegnete, man rede bei Tisch doch nicht von Geschäften. Bronstein verkniff sich dennoch die Bemerkung, dass man sich eben noch nicht bei Tisch befinde. Frau Ritter freilich war die Aussage ihres Mannes nicht entgangen, und sie klingelte nach der Dienerin, die auch sofort erschien. „Sie können jetzt auftragen, Josefine“, näselte die Mutter.
Während sich Herr von Ritter salopp auf den nächstbesten Sessel plumpsen ließ, eilte Bronstein zu dessen Frau und rückte ihr den Stuhl zurück. Kaum hatte diese Platz genommen, machte Bronstein schnell drei weitere Schritte, um auch Marie Caroline behilflich zu sein. Dann sah er sich einen Moment um und kam zu dem Schluss, sich neben ihren Vater zu setzen, um dergestalt die Runde bei Tisch auszubalancieren, wobei er der Absurdität der Situation nur einen kleinen Augenblick Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte sich schon daran gewöhnt, dass derartige Rituale im Leben der Familie seiner Gefährtin einen erstaunlich hohen Stellenwert besaßen.
Josefine brachte eine große Suppenschüssel in den Raum und stellte sie in der Mitte der Tischfläche ab. Sie griff mit der linken Hand nach dem Teller des Hausherrn und mit der rechten nach dem Schöpflöffel. Zunächst holte sie einen Leberknödel vom Grunde der Schüssel und platzierte diesen auf dem Teller. Danach gab sie so lange Suppe bei, bis der Vater mit einer unmerklichen Geste des rechten Zeigefingers signalisierte, es sei nun genug. Diese Prozedur wiederholte sich bei den Tellern der Mutter und der Tochter. Erst dann
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