Tinnef
Das konnte doch unmöglich der Fall sein! Der Oberst Redl hatte sich als Eigentümer des besagten Futterals bezeichnet und durch das Nichtvollenden des betreffenden Satzes auch noch zu erkennen gegeben, dass er sich ertappt fühlte. Bronstein riskierte einen flüchtigen Blick zur Seite. Der Oberst Redl war ganz blass. Steif wie ein Stock stand er da. Dann nahm er mit einer fahrigen Bewegung das Futteral an sich, drehte sich um und ging unendlich langsam auf den Ausgang zu. Hinter seinem Rücken gab Bronstein Pokorny ein Zeichen. Dieser begab sich gleichfalls zur Tür und sah dem Obersten nach. „Er geht nach rechts“, sagte er dann, als er Redl außer Hörweite wusste.
Bronstein wandte sich wieder an den Portier. „Rufen Sie 123 48 an. Das ist das Evidenzbüro. Sagen Sie dort, es ist alles in Ordnung. Das Corpus Delicti gehört dem Obersten Redl.“ Dann schnappte er sich Pokorny und lief durch das Foyer auf die Straße. Gerade noch rechtzeitig, um Redl im „Café Central“ verschwinden zu sehen. Sie querten eilig die Straße und betraten gleichfalls das Kaffeehaus. Am hinteren Ende erspähten sie Redl, der das Lokal eben durch die Hintertür wieder verließ. Bronstein zupfte Pokorny am Ärmel: „Der will durch die Passage auf die Freyung.“ Und abermals nahmen sie die Verfolgung auf.
„Schau!“, rief Pokorny seinem Vorgesetzten zu, „er zerreißt irgendwelche Papiere. Die sind sicher Beweismaterial. Die müssen wir sicherstellen.“
„Vielleicht“, entgegnete Bronstein ruhig, „aber nicht jetzt. Der Mann ist wichtiger. Der will uns nur aufhalten. Er glaubt, einer von uns sammelt die Papierln auf, und den anderen kann er dann irgendwie abhängen. Aber nicht mit uns. Komm, weiter geht’s.“
In der Tat erreichten sie nun die Freyung, Redl ging keine zehn Meter vor ihnen. Er wusste, dass sie ihm folgten, und sie wussten, dass er es wusste. Doch das spielte keine Rolle mehr. Der Agentenjäger hatte sich selbst als Spion entlarvt. Es war sein Leben, das verwirkt war, nicht jenes von Bronstein. Und diese Tatsache wollte er den Obersten wissen lassen. Hautnah. Langsam schloss er auf. Er war kaum noch sieben, acht Meter hinter dem Militär und unterdrückte das Bedürfnis, laut ein Liedlein zu pfeifen. Vielleicht dieses „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ vom Strauß Schani. Doch das kam Bronstein abgeschmackt vor. Bloß nicht voreilig triumphieren. Redl hatte ihn schon einmal düpiert. Und bei den Finessen, die der Oberst fraglos in seiner langen Karriere gelernt hatte, verfügte er sicher über Mittel und Wege, ein weiteres Mal durch die Maschen des polizeilichen Netzes zu schlüpfen.
„Gut“, sagte Bronstein stattdessen, „du gehst zurück, sammelst die Schnipsel auf und begibst dich dann sofort damit ins Präsidium. Ich gehe unserem sauberen Herrn Oberst nach. Mal sehen, was der jetzt noch im Schilde führt.“
Pokorny gab Bronstein ein kurzes Zeichen, dass er verstanden hatte, dann machte er kehrt. Bronstein aber schritt weiter aus, den Obersten keinen Moment aus den Augen lassend. Beinahe gemeinsam bogen sie in den Tiefen Graben ein, gingen unter der Brücke durch, über welche die Wipplingerstraße führt, und hielten auf den Kai zu. Was wollte der Mann in der Brigittenau? Dort gab es weder einen Bahnhof noch sonst eine Möglichkeit, irgendwie abzutauchen. Schon gar nicht in der Montur eines Mitglieds des Generalstabs. Als derart hochrangiger Militär fiel man in dem abgewohnten Proletarierbezirk mehr auf als eine Bauchtänzerin in den päpstlichen Gemächern. Ob Redl den Verstand verloren hatte?
Tatsächlich hatten sie nun den Donaukanal erreicht. Dort blieb Redl unschlüssig stehen. Bronstein hielt keine zehn Meter hinter ihm. Redl drehte sich um. Bronstein hielt dem Blick des Obersten stand. Mehr noch, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, das dem Kontrahenten signalisierte: „Du entkommst mir nicht. Nicht mehr.“
Und so, als hätte der Offizier die unausgesprochene Botschaft verstanden, drehte er ab. Er machte einige Schritte auf die Straße zu, überquerte sie und ging auf der anderen Seite des Tiefen Grabens wieder zurück. Und abermals tat es ihm Bronstein gleich.
Neuerlich gingen sie unter der Brücke durch, ein weiteres Mal erreichten sie die Freyung mit der Schottenkirche. Rechter Hand, keine zehn Meter vor ihnen, befand sich das Denkmal für Herzog Heinrich II., der einst mit dem Spruch „Ja, so mir Gott helfe“ berühmt geworden war,
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