Tinnef
Bronstein für sein Versagen in die hinterste Provinz strafzuversetzen. Nein, er würde ihm höchst eigenhändig den Kopf abreißen. Buchstäblich! Er würde gegen Bronstein eine Anklage wegen Hochverrats einleiten und diese wahrscheinlich auch durchbekommen. Der Fall, so würde Redl argumentieren, sei ja sonnenklar. Dadurch, dass der saubere Herr Bronstein samt seinem indolenten Adlatus die Ergreifung des Spions aktiv vereitelt habe, sei eindeutig und zweifelsfrei bewiesen, dass dieser Herr Bronstein an der Spionage beteiligt und ergo selbst ein Agent ausländischer Mächte sei. Genüsslich würde Redl ins Treffen führen, dass Bronstein aus Galizien stamme und mutmaßlich jenseits der Grenze noch Verwandtschaft habe. Daher sei es wohl ein Leichtes gewesen, ihn für die Ochrana anzuwerben. Außerdem habe besagter Bronstein im Frühjahr dieses Jahres eine ebenso extravagante wie kostspielige Liaison mit einer Dame der besseren Gesellschaft begonnen, und es sei mehr als naheliegend, dass sich ein kleiner Polizeioberkommissär eine solche Liebesbeziehung finanziell niemals leisten könne. Also habe man seinen Onkel, Großonkel oder Vetter aus Janowka oder wo auch immer herbeizitiert, Fühlung mit dem Mann aufzunehmen, der nur allzu schnell gefügig geworden sei angesichts der Summen, die ihm der zaristische Geheimdienst geboten. Nur allzu logisch, dass er da den Verdächtigen entwischen ließ. Wahrscheinlich teilten sie sich die Summe aus Eydtkuhnen brüderlich. Und daher, so würde Redl resümieren, gebe es nur ein mögliches Urteil: An den Galgen mit dem Mann! Und ehe der Sommer vorüber war, würde er, David Bronstein, als totes Stück Fleisch an einem Strick baumeln. Statt Kirchenwirt in Suben Armesünderfriedhof in Simmering.
Trotz dieser Aussichten musste Bronstein plötzlich schmunzeln. Es war wohl ein Hintertreppenwitz der Geschichte, dass der wirkliche Spion ausgerechnet in jenem Hotel abgestiegen war, in dem auch sein natürlicher Todfeind residierte. Da hatte sich der Kerl ja das richtige Versteck ausgesucht. Die Höhle des Löwen! Vielleicht wohnten die beiden sogar Wand an Wand.
Aber für derartige Kombinationen war jetzt keine Zeit. Bestimmt wusste Gayer schon von der Hauptpost, dass die Briefe in der Zwischenzeit behoben worden waren. Bronstein musste daher endlich auch selbst Bericht erstatten und erklären, welche Ergebnisse die Verfolgung bislang erbracht hatte. Vielleicht sollte man dabei auch gleich erwähnen, dass der Herr Oberst Redl persönlich zugegen sei, und anfragen, ob nicht dieser viel berufenere und höherrangige Beamte die Untersuchung leiten solle.
Endlich hatte ihn Pokorny erreicht. Bronstein kam eine Idee. „Sag, hast des Futteral noch?“ Pokorny signalisierte Zustimmung. „Her damit!“ Pokorny händigte es seinem Vorgesetzten aus. Bronstein wandte sich an den Portier und forderte ihn auf, seine Gäste zu fragen, ob ihnen dieses Objekt zufällig abhanden gekommen sei, er habe es nämlich hier im Foyer gefunden.
Sicher, die Chance, dass sich der Verdächtige auf diese Weise verriet, war gleich null, aber man musste es wenigstens versuchen, sagte sich Bronstein. Vielleicht hat das Schicksal ja doch noch ein Einsehen mit ihm. Statt Armesünderfriedhof in Simmering Eiserne Krone im Präsidium.
Im Augenwinkel nahm Bronstein eine Person wahr, die eben die Stufen abwärtsschritt. Anhand der überaus schmucken Uniform, die der Mann trug, bedurfte es keiner weiteren Mutmaßungen über dessen Identität. Da stieg der Schrecken der ausländischen Mächte höchsteigen hinab zu den Normalsterblichen. Der Oberst Redl in voller Montur! Unwillkürlich schlug Bronstein die Hacken zusammen und salutierte, wofür er von Redl ein nachlässiges Nicken erntete. Ohne weiter auf Bronstein zu achten, legte der Oberst einen Schlüssel auf die Theke, dessen Gravur ihn als jenen von Zimmer 1 auswies.
„Haben der Herr Oberst vielleicht die Hülle Ihres Taschenmessers verloren?“
Ja war der Trottel von Portier denn von allen guten Geistern verlassen? Jetzt fragte er doch glatt den Obersten aller Agentenjäger, ob er etwas verloren haben mochte, das zweifellos einem Spion gehörte. Wie dumm konnte man denn noch sein? Bronstein verdrehte die Augen und rang um Fassung.
„Jö, mei Futteral! Ich hab’s schon gesucht. Wo habe ich es denn …“ Redl erstarb. Und Bronstein mit ihm.
Er hatte sich blitzschnell das nächstbeste Objekt gegriffen, das Gästebuch, und blätterte scheinbar interessiert darin.
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