Tinnef
Karriere tatsächlich vorbei. Wer konnte schon sagen, wie weitreichend der Verrat Redls war? Unter Umständen hatte der allen Feinden Österreichs seit Jahr und Tag militärische Geheimnisse verraten. Wenn eine solche Sache öffentlich ruchbar wurde, dann war der Schaden, der dem Staat dadurch zugefügt würde, vielleicht sogar noch größer als jener, den Redl verursacht hatte. Jedenfalls würde niemand dem Polizeioberkommissär Bronstein dafür dankbar sein, den Finger auf diese militärische Wunde gelegt zu haben. Und in der Folge wäre es natürlich reiner Zufall, dass er bei jeder Beförderung geflissentlich übergangen wurde. War jemand wie Redl wirklich die eigene Karriere wert?
Aber ein Menschenleben war immerhin ein Menschenleben!
Bronstein war am Verzweifeln. Er wandte sich wieder dem Portier zu: „An Schnaps. Aber schnell!“ Der griff hinter sich und holte eine Obstlerflasche aus dem Regal. Dann schickte er sich an, ein Schnapsglas zu organisieren, doch Bronstein schüttelte nur den Kopf. Er nahm die Flasche entgegen, setzte sie ansatzlos an die Lippen und begann in großen Schlucken zu trinken.
Der Alkohol brannte höllisch die Kehle hinunter. Aber er lenkte Bronstein von seinem grundlegenden Gewissenskonflikt ab.
Bronstein ignorierte den konsterniert dreinblickenden Hotelangestellten und trank weiter. Um dessen bohrenden Blicken zu entgehen, drehte er sich um und steuerte die Sitzgruppe im Foyer an, wo er sich schwerfällig niederließ. Und wieder setzte er die Flasche an, um einen beträchtlichen Teil ihres Inhalts in seine Kehle rinnen zu lassen.
Er sackte ein wenig in sich zusammen und blies dabei Luft aus der Nase aus. Ganz deutlich erschien die merkwürdig verdrehte Gestalt des ungarischen Leutnants vor seinem geistigen Auge. Der Mészáros, die arme Sau, war im Pendel geendet, weil ihm sein Gspusi buchstäblich den Gstieß gegeben hatte. Wie immer dessen Ableben schließlich wirklich vor sich gegangen war, der arme Mészáros war am Ende seines Lebens ein zutiefst unglücklicher Mensch gewesen, der vielleicht tatsächlich keinen Sinn mehr für sich gesehen hatte. Aber der Redl? Der sah in seinem Leben sicherlich noch jede Menge Sinn. Der hatte ohne Zweifel haufenweise Geld und konnte sich fraglos eine Existenz in Luxus und Exklusivität leisten. Bei solchen Perspektiven wollte man ganz sicher nicht sterben.
„Tschuldigung“, sagte Bronstein, dem eben ein Rülpser entfahren war, automatisch und wunderte sich darüber, wie undeutlich dieses eine Wort aus seinem Mund gekommen war. Egal, darauf trank er noch einmal.
Was immer Redl auch getan hatte, spann Bronstein seinen Gedanken weiter, es war barbarisch, ihn auf diese Weise zu bestrafen. Doch andererseits, wie sah die Alternative aus? Bei Hochverrat dieses Ausmaßes würde sicherlich die Todesstrafe verhängt werden. Redl war also so oder so ein toter Mann, der Unterschied bestand nur darin, dass er im zweiten Fall noch ein halbes Jahr zu leben hatte.
Nun, ein halbes Jahr war ein halbes Jahr. So wie eine halbvolle Schnapsflasche eine halbvolle Schnapsflasche war. Die Frage, die sich hier also aufdrängte, war jene: Hatte er das wirklich alles allein weggetrunken?
Bronstein wurde schlecht. Kein Wunder, sagte er sich, bei der moralischen Last, die auf seinen Schultern lag. Diese Last, also diese … na … moralische … Last, die lag also …, ja, worauf lag die denn? … Auf seinen Schultern, richtig. … Auf seinen nämlich! „Auf meinen, verstehen S’!“
Hatte er das gerade wirklich laut gesagt? Na servus, offensichtlich war er ziemlich bedient. Peinlich eigentlich. Wahnsinnig peinlich, genau genommen. Direkt zum Genieren! Um Himmels Willen, das ist ja so was von …, na, verstecken müsst man sich … was heißt – eingraben! Wo ist das nächste Loch? Und warum hatte er jetzt Schluckauf? Wer dachte an ihn? Auch egal, noch einen Schluck.
„Meinen S’ nicht, Herr Inspektor?“
Wie aus weiter Ferne drangen die Worte des Rezeptionisten an Bronsteins Ohr. Was sollte er meinen? Irgendwie hatte er das Gefühl, einen Teil des Satzes verpasst zu haben. Oder waren die Worte des Portiers andere gewesen? Weinen S’ nicht! Bronstein fuhr sich über die Wangen, und sie fühlten sich tatsächlich ein wenig feucht an. Doch das war ja wohl kein Wunder angesichts des Dilemmas, dem er sich da ausgesetzt sah. Endlich bekam er einmal die Chance, einen wirklichen Fall zu bearbeiten, und dann endete die ganze Sache so. Das war ja wirklich zum
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