Tinnef
Selbstmord zu verhindern, selbst wenn es sich dabei um einen Schwerverbrecher handelte. Denn niemand sollte sich der irdischen Gerichtsbarkeit entziehen. Bronstein wollte daher etwas erwidern, doch ihm blieb einfach nur der Mund offen. Aber er kam nicht dazu, seine Gedanken zu ordnen, denn der General winkte den Hauptmann herbei: „Nehmen S’ den Mann unter Eid.“
Der trat ganz nah an Bronstein heran und sagte mit monotoner Stimme: „Alles, was Sie heute in dieser Sache erfahren haben oder noch erfahren werden, unterliegt der striktesten Geheimhaltung. Sie werden mit niemandem, auch nicht mit Ihren Vorgesetzten, darüber reden.“
„Aber der Herr Regierungsrat Gayer“, entfuhr es Bronstein.
„Da brauchen S’ Ihnen keine Sorgen machen, dem berichten schon wir“, merkte der Oberst an. „Also machen S’ da jetzt keine Sperenzien, damit endlich was weitergeht. Sagen S’ schon, ich schwöre, dann hat das Kind einen Namen.“
„Ich schwöre“, flüsterte Bronstein.
„Na eben, geht doch“, sagte der Oberst noch und ging die Treppe hinunter. Die anderen drei Offiziere folgten ihm. Bronstein wirkte wie erschlagen. Er konstatierte einen trockenen Mund und hatte das dringende Bedürfnis nach Wasser. Tapsend tastete er hinter sich nach einer Sitzgelegenheit und ließ sich schließlich auf einen Sessel fallen. In welchen Albtraum war er da nur hineingeraten?
Sicher, so tröstete er sich nach einer kleinen Weile, eigentlich hatte er mit all dem nichts zu tun. Es war nicht seine Entscheidung, den Obersten über die Klinge springen zu lassen. Aber durfte er es so einfach hinnehmen, dass sich wenige Meter von ihm entfernt ein Mensch selbst mordete?
Der Mészáros kam ihm wieder in den Sinn. Wäre er damals rechtzeitig gekommen, er hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um diesen Mann zu retten. Vor dem Baumgarten oder viel leicht doch vor sich selbst. Und jetzt, wo er die Gelegenheit hatte, einen Suizid zu verhindern, tat er nichts? Bronstein schluckte. Hin und her gerissen zwischen moralischem Anspruch und dienstlicher Raison tat er, was jeder ordentliche österreichische Beamte in einer solchen Situation zu tun pflegte: Er verharrte in Apathie.
Durch die geschlossene Tür des Zimmers Nummer 1 waren Schlurfgeräusche zu hören, gelegentlich unterbrochen durch heftiges Keuchen. Offenbar rannte Redl in seinem Quartier auf und ab wie ein Tiger in seinem Käfig. Bald danach war deutliches Husten zu vernehmen. Ein gurgelndes Geräusch hörte sich so an, als versuchte der Oberst irgendwelchen Schleim aus der Lunge oder aus den Stirn- in die Mundhöhle zu bekommen, und unwillkürlich ekelte es Bronstein.
„Sagen S’, was ist denn da oben los?“ Offenbar war nun, da die Offiziere bereits geraume Zeit das Hotel verlassen hatten, auch der Portier neugierig geworden.
„Nix!“, rief Bronstein die Treppe hinunter. Er selbst konnte die Spannung nicht mehr ertragen. Er erhob sich langsam und bewegte sich zu den Stufen. Sachte setzte er einen Fuß vor den anderen und schlich so regelrecht abwärts.
Am Ende der Stiege wurde er bereits vom Portier erwartet: „Sie können mir doch nicht erzählen, dass da oben nix los ist. I bin ja ned blöd. Der Redl hat was ausg’fressen, und jetzt streiten Militär und Polizei, wer ihn kriegt. Oder lieg ich da falsch?“
Bronstein schüttelte nur den Kopf. „Dem Herrn Oberst ist nicht wohl. Die Kommission wollte sich nur überzeugen, ob er diensttauglich ist“, sagte er mit kläglicher Stimme.
„A so a Topfen!“ Der Portier war von dieser Version keineswegs überzeugt, doch Bronstein ließ ihn einfach stehen und ging an die Tür. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Da standen sie. Alle vier. Genau an der Ecke Herrengasse und Bankgasse. Unweigerlich musste Bronstein an Gayer denken.
Er hätte gewollt, jetzt in Leitomischl bei seinem Großvater zu sitzen, einen Birnenschnaps zu trinken und den Großvater einfach fragen zu können, was er an dieser Stelle tun würde. Doch er war sich ziemlich sicher, die Antwort ohnehin zu kennen. Eigentlich müsste er nun nach oben gehen, in Redls Zimmer eindringen, diesen festnehmen und aufs Präsidium bringen. Oder noch besser gleich ins Landesgericht. Dort dem Journalrichter vorführen, damit dieser Untersuchungshaft über ihn verhänge. Dann wäre der Fall aktenkundig, und alles verliefe in gesetzlichen Bahnen. Es durfte doch nicht sein, dass die Armee tatsächlich über dem Gesetz stand!
Aber dann war es möglicherweise mit seiner
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