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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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nur.
    „Dann“, ließ der General verlauten, „ist die Sache für Sie erledigt. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich aus. Und vergessen Sie nicht, dass Sie unter Eid stehen. Zu niemandem ein Wort. Zu niemandem!“
    Bronstein wiederholte seine Kopfbewegung und begann dann zu gehen. Er grüßte weder die Offiziere noch den Portier, er ging einfach nur in Richtung Ring. Die Kälte der frühen Stunde machte ihn frösteln, und er schlug den Kragen seines Rocks hoch. Ein dezenter Rotstich am Himmel kündigte den Sonntag an, und die Stadt lag wie ausgestorben zu seinen Füßen. Vorbei an der Minoritenkirche, passierte er den Volksgarten und sah sich so dem Rathaus und dem Parlament gegenüber. Hinter sich wusste er das Burgtheater. Bronstein meinte sich daran zu erinnern, dass da zurzeit „König Ottokars Glück und Ende“ gegeben wurde. Redl war auf seinem Gebiet auch ein Herrscher gewesen. Und wie der stolze Böhme hatte er seine Grenzen nicht gekannt, weshalb sein Fall nun ebenso tief war wie jener des Pˇremysliden.
    Bronstein plagten Kopfschmerzen, und er wollte nur noch nach Hause. Doch bis nach Dornbach mochten es gut und gerne fünf Kilometer sein. Er lenkte seine Schritte zur Universität und kam schließlich am Schottentor an, von wo die Tramway nach Hernals abfuhr. Er riskierte einen Blick auf die Anzeigetafel. Der erste Wagen sollte die Haltestelle an einem Sonntag um fünf Uhr früh verlassen, und seine Taschenuhr sagte ihm, dass es mittlerweile zwanzig vor fünf war. Die paar Minuten würde er nun auch noch überstehen. Er setzte sich auf die Wartebank und rauchte eine weitere Zigarette. Dabei versuchte er, die Bilder des toten Obersts aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Allein, es gelang ihm nicht. Um sich abzulenken, fixierte er einen Vogel, der in geringer Entfernung von der Bank ein paar Brotkrumen aufpickte. Welch ein friedvoller Moment. So gänzlich anders als die letzten Stunden. Bronstein rieb sich die Schläfen und seufzte.
    Um ein Haar wäre er ein weiteres Mal eingenickt, doch das durchdringende Quietschen der Tramway, als sie in die Kurve einbog, weckte ihn wieder. Er kletterte in den Triebwagen, entrichtete beim Schaffner den Fahrpreis und ließ sich dann schwer auf eine der Holzbänke fallen. Eine knappe halbe Stunde später war er an der Endstation angekommen. Die letzten Meter zu seiner Wohnung legte er zu Fuß zurück. Endlich zu Hause angekommen, streifte er seine Schuhe ab, zog den Rock aus und fiel dann vornüber auf sein Bett, wo er sofort in einen tiefen und langen Schlaf sank.

X.
Sonntag, 25. Mai 1913
    Irgendein infernalischer Lärm drang durch die Tiefen seiner Bewusstlosigkeit an sein Ohr. Bronstein wehrte sich mit aller Kraft gegen das Aufwachen, doch schließlich musste er kapitulieren. Er öffnete die Augen und setzte sich ganz langsam auf. Nachdem er eine Weile seine Schläfen massiert hatte, nahm er die Uhr auf seinem Nachttisch in den Blick.
    Schlag zwölf.
    Verdammt! Um genau diese Zeit war er bei Marie Carolines Eltern zum Dejeuner angesagt. Als ob der gestrige Streit nicht genügt hätte! Seine heutige Verspätung musste endgültig wie eine Provokation wirken! Er sprang aus dem Bett, streifte die Kleider vom Leib und goss eilig Wasser in das Lavoir. Er schüttete sich selbiges sodann ins Gesicht, fuhr sich mit den nassen Händen in die Achselhöhlen und wusch sich schließlich auch noch sein Geschlecht. Nicht, dass er damit gerechnet hätte, zum Zug zu kommen, doch er erinnerte sich daran, dass ihn Marie Caroline einst ein „Schweinderl“ genannt hatte, da er seine Morgentoilette auf das Gesicht, den Nacken und den Oberkörper beschränkt hatte. Er roch an sich und war nicht zufrieden. Aus dem Regal beim Waschtisch förderte er eine Flasche Kölnischwasser zutage und verteilte deren Inhalt strategisch an einigen Stellen seines Körpers. Dann eilte er zurück in sein Schlafzimmer, raffte einige Kleider zusammen und versuchte, diese auf eine Weise zu kombinieren, die ihn halbwegs repräsentabel erscheinen lassen mochte.
    Zehn Minuten später stand er erschöpft an der Straßenbahnhaltestelle. Er seufzte. Das konnte niemals gutgehen. Er würde beinahe eine halbe Stunde bis zur Universität brauchen, dann weitere zwanzig Minuten bis zum Karlsplatz und schließlich noch einmal eine knappe Viertelstunde bis zur Wohllebengasse. Im allerbesten Falle hatte er also fünfundsiebzig Minuten Verspätung, und dementsprechend brüsk würde ihm Marie Caroline die Tür weisen.

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