Tinnef
einer der vier Offiziere erstaunlich deutlich: „Sie dürfen um eine Schusswaffe bitten.“ Offensichtlich war Redl zuvor gefragt worden, ob er eine solche bei sich hatte, und dieser schien verneint zu haben. Nun reagierte Redl mit den Worten: „Ich bitte gehorsamst um einen Revolver.“
Stille. Dann ein Knarzen. Bronstein deutete dieses gerade noch richtig und trat schnell einige Schritte zurück. Schon flog die Tür auf, und einer der Offiziere eilte an Bronstein vorbei zurück ins Foyer. Die anderen blieben offenbar bei Redl. Für Bronstein war nun der Zeitpunkt gekommen, Gayer Bericht zu erstatten. Er ging zurück an die Rezeption und verlangte das Telefon. Der Regierungsrat reagierte auf die Mitteilungen seines Untergebenen erstaunlich einsilbig. Er solle die Stellung halten und unter allen Umständen strikte Kooperationsbereitschaft wahren. Der Gayer, so dachte sich Bronstein, wirkte direkt ein wenig ängstlich. Vielleicht hatte die ganze Sache schon viel weitere Kreise gezogen, als bislang anzunehmen war. Das wäre nicht weiter verwunderlich, denn eine derart hochrangige Kommission stellte sich kaum von selbst zusammen. Wahrscheinlich war mittlerweile nicht nur das Oberkommando der Armee in die Angelegenheit involviert, sondern auch bereits die Regierung. Vor Bronsteins geistigem Auge erstanden hektische Beratungen zwischen Generalstabschef Hötzendorf, Ministerpräsident Stürgkh und dem Thronfolger höchstselbst, der sich mit Vorliebe in derlei Dinge einmischte. Wahrscheinlich stand Hötzendorf bereits im Schloss Belvedere Habtacht, während man den Regierungschef eben aus seinem Schlaf läutete. Und der Hauptmann war nun unterwegs, um Instruktionen einzuholen. Deswegen hielt sich wohl auch Gayer bedeckt, weil alles auf eine Entscheidung von oben wartete. Anders war die jüngste Entwicklung nicht zu deuten. Man hatte Redl bereits eine Schusswaffe angeboten, was normalerweise bedeutete, dass sich der Betreffende selbst entleiben musste. Doch in einem solchen Fall verließ die Kommission das jeweilige Zimmer und wartete draußen, bis sie den Schuss gehört hatte. Offiziell sprach man dann von Selbstmord, den man quasi entdeckt hatte. Doch die Kommission befand sich noch bei Redl, was nur heißen konnte, dass jemand Höherer als der anwesende General den Befehl erteilen sollte.
Bronstein blieb also nichts weiter zu tun als abzuwarten. Er steckte sich eine der neuen Zigaretten an, die ihm eigentlich gar nicht schmeckte. Sie war viel zu leicht. Sosehr er auch an ihr zog, der beruhigende Effekt wollte sich partout nicht einstellen. Er schickte dem Portier einen wissenden Blick, und dieser beantwortete ihn mit einer entsprechenden Miene. In dieser Situation verständigte man sich besser ohne Worte.
Eine gute Viertelstunde nachdem er sich entfernt hatte tauchte der Hauptmann wieder auf. In seiner rechten Hand hielt er eine Browning. Das konnte doch nicht die Möglichkeit sein, sagte sich Bronstein, dem ein scheinbar absurder Gedanke gekommen war. Was, wenn Redl, wie es seine Lage gebot, nach einer Waffe verlangt hatte, doch keiner der vier Offiziere eine bei sich führte? Das wäre denn doch zu peinlich, verwarf Bronstein diese Idee wieder. Die kaiserliche Armee war zwar berüchtigt für ihre permanenten Schnitzer, doch so erbärmlich konnten nicht einmal die kaiserlichen Fahnen sein! Und doch hörte Bronstein den Mann deutlich sagen: „Ich bringe den Revolver, Herr General.“ Bronstein schüttelte den Kopf. Was brauchte es da noch Spione, die militärische Geheimnisse verrieten? Eine solche Armee war doch ohnehin kein ernstzunehmender Gegner. Fassungslos schickte er sich an, wieder in den ersten Stock zu gehen, als ihm auch schon die Offiziere entgegenkamen.
„Sie sind noch hier?“, meinte der General mit nicht geringer Verwunderung.
„Ich bin so frei“, entgegnete Bronstein und bemühte sich darum, in das Gesagte eine ironische Note zu legen.
„Fein. Dann können S’ uns gleich behilflich sein. Stellen S’ sich vor die Tür da und warten S’, bis S’ einen Schuss hören. Dann kommen S’ runter und holen uns.“
Erst in diesem Augenblick wurde Bronstein die moralische Dimension der Situation bewusst. Dass die Armee jemanden zum Selbstmord zwang, war die eine Sache, dass er indirekt daran mitwirken sollte, jedoch eine vollkommen andere. Ein Leben war immerhin ein Leben, und Selbstmord wurde nicht nur von der Kirche verurteilt. Normalerweise war es die erste Aufgabe eines Polizisten, einen
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