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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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hatte jedoch nicht den geringsten Zweck. Aber wenn alles Leiden grundlos ist, wenn unsere Handlungen den Lauf der Dinge oder dein Urteil nicht verändern können, wozu leben wir dann? Warum streben wir nach dem Guten und untersagen uns das Schlechte, das uns glücklicher machen würde? Warum verzichten wir auf die Sünde und legen unser Teuerstes in deine Hände?
    Jacometto weinte, verkrampfte sich, sah sie an, schaute uns alle an, als fragte er uns, warum wir ihm das antun würden. Warum? Helft mir doch. Nicht einmal sprechen konnte er. Die Augen in seinem eingefallenen Gesicht waren riesengroß. Erst am Ende fiel
mir auf, dass sie jadegrün waren und kleine aquamarinfarbene Sprenkel hatten - wie meine. In der letzten Nacht wurde sein Weinen immer leiser und hörte sich schließlich an wie das jämmerliche, wenn auch nicht minder herzzerreißende Miauen eines Kätzchens. Ich stand kurz davor, ihn mit einem Kissen zu ersticken, um seinem Leiden ein Ende zu setzen. Er starb in ihren Armen.
    Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Sie weigerte sich zu glauben, dass er nicht mehr aufwachen würde. Den gesamten nächsten Tag hinderte sie uns daran, ihn zu berühren - sie wiegte ihn weiter in ihren Armen und sang ihm Schlaflieder vor. Selbst Faustina konnte sie nicht davon überzeugen, sich von ihm zu trennen.«Wir müssen ihn waschen und einparfümieren», redete sie auf sie ein,«sein schönstes Kleid ziehen wir ihm an, Marietta.»Aber sie wollte nicht auf sie hören.«Lass ihn doch schlafen», erwiderte sie,«gerade ist er endlich eingeschlafen, wo er doch so viel geweint hat.»
    Mit verquollenen Augen kam Faustina zu uns in die Laube. Sie vergötterte das kleine Geschöpf. Dabei war es nicht einmal ihr Enkel.«Wir haben neun Kinder gehabt», pflegte sie zu sagen - und siehe, Herr, auch meine Marietta zählte sie dazu -,«da werde ich mindestens hundert Enkel bekommen: Aber dieser ist der erste, aus dem machen wir den König der Tintoretti.»Kein anderer ist mehr gekommen. Dominico machte sich zum Priester des Malerordens, und Marco würde niemals die Verantwortung für ein Kind übernehmen. Wenn auch Ottavia und Laura Nonnen werden, bleibt Jacometto unser einziges Enkelkind - eine dritte Generation wird es nicht geben, mein Blut wird mit mir versiegen. Faustina schnäuzte sich die Nase und wischte sich die Augen trocken: Zeitlebens war sie ein praktisch und hoffnungsfroher Mensch. Sie sinnierte bereits darüber nach, wie es weitergehen könne. Dem Juwelier schlug sie vor, ein Kind aus dem Hospital aufzunehmen, eines von denen, die niemanden mehr auf der Welt hätten und
die von den neuen Eltern Liebeskinder genannt würden. Und es rasch zu tun, denn das sei das beste Heilmittel für Marietta. Marco Augusta nahm ihre Hände in seine, küsste sie und sagte:«Ihr seid eine zu redliche Frau, um in zwei so finstere Seelen wie unsere blicken zu können.»
    «Jacometto ist schon ganz blau», flüsterte Ottavia,«er hat Flecken auf den Armen, wir müssen ihn umgehend begraben. Die Verwesung hat bereits eingesetzt.»In jenem Sommer war es besonders heiß. Wenn man die Früchte nicht sofort pflückte, faulten sie noch am Ast, und unter der glühend heißen Sonne brachen selbst die Melonen auf. Als der Juwelier Marietta zu überreden suchte, ihm das Kind zu geben, warf sie ihn vor die Tür.«Verschwinde», hörten wir sie schreien,«rühr meinen Sohn nicht an, du hast ihn doch von Anfang an gehasst.»
    «Wir müssen ihr etwas verabreichen», meinte Dominico besorgt,«ein Beruhigungsmittel oder ein Schlafmittel, ich fahre sofort nach Venedig und kaufe Opium.»«Dafür brauchst du nicht erst nach Venedig zu fahren», sagte Marco leise,«ich habe welches in meinem Mäppchen, so viel, wie du willst.»Wir waren von den Ereignissen so aufgewühlt, dass wir uns in diesem Moment die Bedeutung dieser Aussage nicht vor Augen führten, im Gegenteil sogar erleichtert waren. Von dem Mohnpulver würde sie einschlafen und vergessen. Verstört kam der Juwelier aus Mariettas Zimmer.«Ich fürchte, sie ist geistig umnachtet», war seine einzige Bemerkung. Da bat Faustina mich, sie wieder zur Vernunft zu bringen. Ich sei der Einzige, dem das gelinge.
    Marietta saß vor dem weit geöffneten Fenster und blickte in die Ferne. Der Garten in der Sommerhitze war verbrannt - aber im Hintergrund jenseits der Mauer sah man den Teich der Nachbarn. Eine dichte Weide warf einen kreisrunden Schatten, die Blätter streiften sanft über die Wasseroberfläche.

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